Die Zukunft der virtuellen Realität

Metaversum: Wann kann man endlich in eine dreidimensionale Parallelwelt fliehen?

Künftig werden immer mehr Leute in der virtuellen Realität ein paralleles Leben führen. Wie weit ist die Technologie? Und was macht das mit einer Gesellschaft?

Kann die Vision einer friedlichen Techgesellschaft parallel zur realen Welt existieren?
Kann die Vision einer friedlichen Techgesellschaft parallel zur realen Welt existieren?imago/Addictive Stock/Manuel Ruiz

Berlin-Die reale Welt erlebt eine dramatische Entwicklung: Krieg in der Ukraine, mögliche Weltkriegsgefahr, dazu der Wandel des Klimas in vielen Teilen der Welt. So mancher würde gerne vor diesen Bedrohungen in eine Parallelwelt fliehen. Bereits 1992 beschrieb der Science-Fiction-Autor Neal Stephenson in seinem Roman „Snow Crash“ eine futuristische Welt, in der die Protagonisten in einem  sogenannten Metaversum – Englisch: metaverse – leben, einer virtuellen und erweiterten Realität, die mit der physischen verbunden ist. Was damals noch nach abstrakter Zukunftsmusik klang, soll bald Wirklichkeit werden. Doch wie weit ist die Entwicklung konkret?

Im Oktober vergangenen Jahres benannte sich der Facebook-Konzern, zu dem auch Instagram und WhatsApp gehören, in Meta um. Der neue Name des kalifornischen Techgiganten soll den Fokus auf die geplante digitale Welt Metaverse lenken. „Das Metaversum ist aus unserer Sicht nichts Geringeres als die nächste Evolutionsstufe des Internets“, sagt Constanze Osei, die bei Meta Managerin für Society & Innovation Policy für Deutschland, Österreich und die Schweiz ist.

Die virtuelle Welt wird zunehmend mit der physischen Welt verschmelzen

Aktuell ist das Internet noch in 2D konzipiert – sprich:  Menschen lesen Texte und schauen Videos auf einem flachen Bildschirm. Mit dem Metaversum soll das Internet bald dreidimensional werden. Benutzer können sich dann durch eine virtuelle Welt bewegen und zusammen mit anderen interaktiv Dinge erleben. „Dabei wird die virtuelle Welt zunehmend mit der physischen Welt verschmelzen“, meint Osei. Das heißt, dass wir künftig durch unseren Facebook-Feed flanieren, Kleider anprobieren, an Veranstaltungen teilnehmen, in Meetings sitzen oder sogar das lang ersehnte Ferienhaus besitzen können – alles virtuell, versteht sich.

Das Metaversum ist also nicht ganz neu, sondern vielmehr eine Erweiterung moderner technologischer Innovationen. Die primäre Technologie des Metaversums wird als Extended Reality (XR), also erweiterte Realität bezeichnet. Sie setzt sich aus Virtual Reality (VR) sowie Augmented Reality (AR) zusammen. Das Metaversum ist im Grunde ein Produkt aktueller Technologien.

Bei VR ist man von der Umgebung, in der Regel durch eine Brille, abgeschottet. Man sieht daher nur eine künstliche Welt. Bei einer AR-Brille werden digitale Objekte über ein transparentes Display direkt ins Sichtfeld eingeblendet. Wer das Metaversum betreten möchte, braucht die notwendigen technologischen Gadgets, also eine VR- beziehungsweise AR-Brille. Der Facebook-Konzern hatte bereits 2014 die Firma Oculus gekauft, einen Pionier bei Brillen zur Darstellung virtueller Realität. Der Markenname auf den Brillen wird nun ausgemustert und durch Meta ersetzt.

Das ist aber nicht die einzige Investition, die den Nutzern bevorsteht. Die virtuelle Welt soll nach den Prinzipien der freien Marktwirtschaft agieren. Mitte April verkündete der Techkonzern, man beginne bald mit dem Testen von Tools zum Verkauf digitaler Assets und Erlebnisse innerhalb der Virtual-Reality-Plattform „Horizon Worlds“. Dieser Schritt sei ein wichtiger Teil des Plans des Unternehmens, ein Metaversum zu schaffen. Mit virtuellen Assets sind beispielsweise NFTs gemeint, die Non-Fungible Tokens. Dabei handelt es sich um ein Echtheitszertifikat, das auf der Architektur der Blockchain basiert.

Menschen sollen das tun, was sie im realen Leben nicht können

Die Entwicklung der dreidimensionalen digitalen Welt stehe noch ganz am Anfang, sagt die Meta-Managerin Constanze Osei. „Es wird mindestens noch 10 bis 15 Jahre dauern, bis die technischen Voraussetzungen so weit sind, dass die Vision, die wir von dem Metaversum haben, Realität werden kann.“ Zudem stemme der Konzern das Projekt nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit vielen Unternehmen, Entwicklern und Organisationen.

Ziel des gewaltigen Projekts ist es, eine „virtuelle Barrierefreiheit zu schaffen und Menschen dorthin gehen zu lassen, wo sie im realen Leben eventuell nicht hin können“, meint die Sprecherin des Techgiganten. „Menschen können sich mit Freunden treffen, arbeiten, spielen, lernen, einkaufen, kreativ sein und vieles mehr.“ Anwendungsszenarien könnten wie folgt aussehen: Anstatt einem Team einfach nur auf einem Bildschirm zuzuschauen, können die Nutzer virtuell beim Spiel dabei sein. Gleichzeitig kann auch Sport getrieben werden. Beispielsweise können Menschen in einem Boxring stehen, um sich mit einem generierten Gegner zu messen.

Nicht nur die Entertainment-Branche könnte vom Metaversum profitieren. Auch für andere Branchen wie die Gesundheitswirtschaft ergäben sich interessante Optionen, meint Petra Dahm, Vorstandsmitglied bei XR Bavaria, einem Fachverein für Virtual Reality und Augmented Reality. Für den klinischen oder ambulanten Alltag könne es beispielsweise mittels digitaler Assistenz auf dem Tablet oder der Assistenz-Brille Entlastung geben.

Das Metaversum soll viele neue Jobs bieten und Innovationen beschleunigen

Gleichzeitig habe die virtuelle Online-Welt große Möglichkeiten mit Blick auf VR-gestütztes E-Learning, zum Beispiel für das Anlernen von Pflegekräften, Schulungen zu Standards oder die Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams. „Internationale Studien belegen den positiven Effekt des Learning by Doing in VR, und erste Einsätze von VR-Trainings zeigen, dass hier ein großes Potenzial liegt“, sagt Dahm.

Laut Philipp Rauschnabel, Professor für Digitales Marketing und Medieninnovation an der Universität der Bundeswehr München, bietet die neue Dimension „ganz viele neue Arbeitsplätze und neue Jobs – viele davon kennen wir heute noch gar nicht“. Er sieht das Metaversum zudem vor allem als Beschleuniger von Innovationen. Neben der Entstehung neuer Geschäftsmodelle würden Technologien verbessert.

„Die Vision ist ein 3D-Internet ohne Monitore, was viele Gemeinsamkeiten mit einer Gesellschaft hat“, äußert der Meta-Forscher. Folglich können Menschen durch Brillen oder Kontaktlinsen mit digitalen Inhalten wie mit Produkten interagieren. Durch AR-Brillen ließe sich das Netflix-Fenster neben die Herdplatte manövrieren.

Gefahren von Kriminalität, Sucht und Flucht aus der Realität

Doch diese Art von Augmented Reality bringe auch große Gefahren hinsichtlich Privatsphäre und Datenschutz mit sich. „Bei AR kommen Scanner zum Einsatz, die in Echtzeit ein 3D-Modell der Umgebung erstellen und dieses, dank künstlicher Intelligenz, auch interpretieren können“, erklärt der Meta-Experte. Die Daten kämen oft zur Verarbeitung in eine Cloud. Dies ermögliche ganz neue Formen von Spionage. Schließlich entstünden auf diese Weise zum Beispiel 3D-Daten von etlichen Wohnungen.

Kann die Vision einer friedlichen Techgesellschaft parallel zur realen Welt existieren? Es reicht ein Blick in die Vergangenheit, um zu sehen, dass kriminelles Publikum angelockt werden könnte. Die Idee einer Online-Welt ist nicht neu, sie existiert bereits – zumindest in 2D. Nach der Jahrtausendwende startete mit „Second Life“ ein virtuelles Universum, an dem User über sogenannte Avatare teilnehmen können, also virtuelle Stellvertreter-Figuren. Mit dem Erfolg kamen auch Probleme. Pornografische Inhalte, Spiel- und Wett-Casinos verbreiteten sich in der Online-Welt. Schließlich schaute sich sogar das FBI in den virtuellen Spielbanken um.

Darüber hinaus ist auch die psychologische Komponente nicht zu unterschätzen. So wisse man nicht, wie es sich auf die Gesellschaft auswirke, „wenn man dauerhaft Sachen sieht, die es nicht gibt, also gewollte Halluzinationen“, sagt der Innovationsexperte Philipp Rauschnabel. Olga Geisel, Sektionsleiterin Suchtforschung der Klinik für Psychiatrie an der Charité Berlin, warnt vor Abhängigkeiten. „Zum Frühstadium von ‚Metaverse‘ lässt sich sagen, dass Realitätserweiterungen eventuell zu noch größerem Sucht- oder Lebensrealitäts-Ausweichpotenzial führen können“, sagt sie. Trotzdem sehe sie auch die Chancen der Plattform gerade im Hinblick auf Bildung.

Wie begegnet man echten Gefahren wie Kriegen und Klimawandel?

Die Frage nach dem Suchtfaktor für Jugendliche sieht der Innsbrucker Psychologe Armin Kaser, der sich auf Internetsucht spezialisiert hat, noch eher gelassen: „Dazu müsste es erst noch spannender werden als TikTok, YouTube und Fortnite.“ Dies sei aktuell nicht abzusehen.

Sollte das Metaversum jedoch ein echter Lebensinhalt für viele Menschen werden, werden sich auch andere Wissenschaften damit befassen müssen: neben der Psychologie und Medizin auch die Soziologie, die Philosophie, die Politik- und Kulturwissenschaften. Denn was macht es mit Gesellschaften und Kulturen, wenn vermischte Welten existieren? Werden Menschen ohne technologischen Zugang künftig ausgeschlossen? Kann man realen Gefahren – etwa Krieg, Energiekrise und Klimawandel – wirklich begegnen, indem man in Parallelwelten flieht? Behindert so etwas gar die Suche nach echten Lösungen? Oder entstehen vielleicht sogar neue Chancen, sich zu treffen und zu verständigen – was auch Folgen für Probleme haben könnte, die das physische Leben bedrohen? Im Grunde entsteht ja durch die Verschmelzung der virtuellen mit der physischen Welt eine ganz neue Realität. (dpa/fwt, BLZ)