Was bringt die vierte Impfung gegen das Corona-Virus? Die europäische Arzneimittelagentur (EMA) empfiehlt sie für Menschen, die älter als 60 Jahre sind. Die EU-Gesundheitsbehörde (ECDC) rät ebenfalls dieser Altersgruppe dazu. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagt, auch jüngere Personen sollten die vierte Dosis in Betracht ziehen. Thomas Mertens widerspricht. Dem Chef der Ständigen Impfkommission fehlt die Datengrundlage für eine solche Empfehlung. In der Welt am Sonntag sagte Mertens: „Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto ,Viel hilft viel‘ auszusprechen.“
Andreas Radbruch sieht das ähnlich. Der wissenschaftliche Direktor beim Deutschen Rheumaforschungszentrum in Berlin hat dem Science Media Center gesagt: „Der Schutz vor schwerer Erkrankung und Tod, der Eigenschutz, ist bereits nach der zweiten Impfung bei 90 und nach der dritten bei 94 Prozent, langfristig und auch gegen Omikron. Da wird die vierte Impfung nicht viel draufsetzen für die Jüngeren, eher für die Älteren, und da kann man diskutieren, ob ab 60 oder 70 oder 80.“
Nach aktueller Studienlage geht Radbruch davon aus, „dass viele Jüngere auf die vierte Impfung gar nicht mehr ansprechen, und die meisten dann bei der fünften Impfung nicht mehr ansprechen“. Der Berliner Professor meint: „Es bleibt die Frage, was man mit dem vierten Schuss erreichen will.“
Wie lange schützt die vierte Impfung vor Ansteckung?
Die vorliegenden Impfstoffe würden kaum vor Ansteckung schützen. „Kurz nach der vierten Impfung beträgt er gerade mal zwischen 10 und 30 Prozent, also nicht der Rede wert, und er wird auch nur relativ kurz andauern“, sagt Radbruch. „Es sei denn, man ist genesen und dreifach geimpft, dann scheint dieser Schutz stabiler zu sein, etwa 90 Prozent über ein Jahr. Ob die vierte Impfung da noch etwas draufsetzt, erscheint mehr als zweifelhaft.“ Warum dies so sei, könne derzeit nicht gesagt werden.
„Studien zeigen: Dritte Impfung ist ein Muss“
Immunologe Onur Boyman vom Universitätsspital Zürich widerspricht seinem Berliner Kollegen in einem Punkt: „Die Behauptungen, dass durch mehr Booster-Impfungen das Immunsystem ,gesättigt‘ würde oder dass mehr oder weniger Booster-Impfungen besser oder schlechter sind, sind so nicht korrekt“, sagt Boyman. Ältere Menschen oder Personen mit einer Immunschwäche würden von häufigeren Booster-Impfungen profitieren, könnten dadurch schwere Krankheitsverläufe abwenden. „Was die Behauptung der ,Sättigung‘ des Immunsystems anbelangt, so ist diese sehr theoretisch und entspricht nicht der klinischen Erfahrung.“
Andreas Thiel leitet an der Charité die Arbeitsgruppe „Regenerative Immunologie und Altern“, der Professor sagt: „Die bisherige dritte Impfung sollte als ganz normale letzte Impfung eines Grundschemas angesehen werden. Viele Studien – auch unsere eigenen – zeigen ganz deutlich, dass die dritte Impfung auch bei Jüngeren ein Muss ist, um länger anhaltende Antikörpertiter zu induzieren – und im großen Maßstab in Studien aus Israel und Großbritannien wird hier auch eine Wirkung auf die schweren Verläufe insbesondere bei Älteren demonstriert.“
Thiel verweist auf Studien, die bei einer vierten Dosis „zumindest mehrmonatige starke Effekte demonstrieren“. Risiken erkennt der Charité-Professor nicht: „Es gibt meines Erachtens keine Studien, die das Gegenteil, also negative Effekte auf Immunitäten, aufzeigen. Ich würde daher auch infrage stellen, dass es im Moment bekannte immunologische Risiken gibt. Für die jährlichen Impfungen mit unterschiedlichen Influenza-Impfstoffen, die ja für vulnerable Gruppen ausdrücklich empfohlen wird, sind keine Studien bekannt, die einen negativen Effekt einer solchen Empfehlung aufzeigen.“
Entscheidender Faktor: Abstände zwischen Impfungen
Regelmäßige Auffrischungen sind laut Thiel aber nicht für jedes Alter erforderlich. „Bei jüngeren Menschen sollte, wenn sich nicht noch sehr veränderte Sars-CoV-2-Varianten entwickeln, das Boostern dann irgendwann nicht mehr nötig sein, weil sie bereits durch die vorherigen Impfungen eine lang andauernde Immunität zum Beispiel gegen Omikron entwickelt haben. Alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen können diesen Immunschutz aber irgendwann nicht mehr aufbauen.“
Christian Bogdan von der Universität Erlangen hält die Abstände zwischen den verabreichten Impfdosen für einen entscheidenden Faktor. „Besonders wichtig ist, dass eine Booster-Impfung – also die dritte Impfung – in einem deutlichen Abstand zur zweiten Impfung stattfindet, im Idealfall nicht früher als sechs Monate“, sagt das Mitglied der Stiko. „Das Gleiche gilt für eine mögliche zweite Booster-Impfung, die die Stiko allerdings nur für besondere Risikogruppen empfiehlt. Auch hier ist der Regelabstand mindestens sechs Monate zur vorangegangenen dritten Impfung.“



