Auf einem Sommerfest am See, ein Dutzend Freunde sitzen um den Tisch, geraten die Gläser durcheinander. War das deins? Hatten es hier eigentlich alle schon?, ruft einer in den Abend. Alle nicken, einer ist sich nicht ganz sicher, aber niemand holt neue Gläser. Vor einer Verabredung, eine Woche später, schreibt die Gastgeberin in die Whatsapp-Gruppe: Wäre es möglich, dass wir uns alle angesichts der steigenden Zahlen morgen vorher testen? Sie habe noch Tests da.
Corona. Man kann das Wort wirklich nicht mehr hören. Aber man hört es wieder häufiger, am Nachbartisch im Restaurant, im Büro, wo ein paar Kollegen in jeder Besprechung Maske tragen, die meisten aber nicht mehr. Von der Freundin, die ihren Besuch verschiebt, weil sie infiziert ist, und eine Woche später, wieder negativ und noch hustend, doch kommt. Die Sommerwelle, die hohen Zahlen, die Warnungen vor Long Covid, vor dem Herbst. Die Gespräche landen oft bei der Frage: Und wie geht’s jetzt weiter?
Mit den Infektionen, den Wellen, aber auch mit den Maßnahmen. Der dritte Herbst der Pandemie beginnt in acht Wochen. Man wüsste langsam gern, worauf man sich einstellen sollte. Und auch für die Zeit bis dahin wäre Orientierung nicht schlecht. Von einer Gesundheitsbehörde, eventuell, oder dem Gesundheitsminister?
Der endlose Corona-Streit in den sozialen Netzwerken
Stattdessen bekommt man in Deutschland: ein Durcheinander an Meinungen, Wertungen, Erkenntnissen. Den endlosen Corona-Streit in den sozialen Netzwerken. Wie sehr sich die Fronten verhärtet haben, kann man täglich beobachten. Wenn man es überhaupt noch aushält, mitzulesen. Und welche Schlüsse soll man ziehen, wem vertrauen? Die meisten Menschen haben keine Zeit für ein Corona-Diplom, das ständig neu abgelegt werden muss. Auch im Mit-Corona-leben-Alltag ist jede Kleinigkeit komplizierter, als sie sein müsste. Oder weiß jemand auf Anhieb, wie viel ein Schnelltest gerade für wen im Testzentrum kostet?
Die politisch Verantwortlichen verweigern die Arbeit. Orientierung geben in einer laufenden Pandemie, nach zweieinhalb Jahren scheint diese Aufgabe auch sie nur noch zu ermüden.
Im Sommer 2021 hatten Bunderegierung und Bundestag immerhin die Idee, einen Ausschuss einzuberufen. 18 Fachleute sollten untersuchen, was die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gebracht haben. Am 1. Juli legte die Gruppe ihren Bericht vor, dessen größte Erkenntnis war, dass es kaum Erkenntnisse gab. Man könne wenig dazu sagen, wie die Maßnahmen gewirkt haben, weil in Deutschland in der Pandemie viel zu wenig Daten erhoben und auf sinnvolle Weise zusammengeführt worden sind. Ob zum Beispiel Schulschließungen sinnvoll waren – das wage man nicht einzuschätzen.
Der Evaluierungsbericht gilt plötzlich als „Querdenker-nah“?
Seit der Bericht erschienen ist, wird er heruntergeredet. Karl Lauterbach, der Gesundheitsminister, erledigte das gleich am Abend in den „Tagesthemen“: Man müsse da vorsichtig sein, dass sei nur ein Gutachten von nur einem Gremium, „nicht das letzte Wort“. Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts – zur Erinnerung: zuständig für die Überwachung von Infektionskrankheiten –, meldete sich einige Tage später auf Twitter. Er postete einen Text, der Bericht und Expertengruppe kritisierte, unter anderem als „Querdenker-nah“.
Es ist ein Vorwurf, den man wie eine Betonplatte auf jede Corona-Debatte werfen kann, wenn man sie darunter versenken möchte. Im Text ging es unter anderem darum, dass eine Gruppe, der ein „Abgrenzungsproblem zu Querdenkern nachgesagt“ werde, Einfluss genommen haben könnte. „Wer recherchiert ist im Vorteil! Danke“, schrieb Wieler auf Twitter. Hauptsache, niemand redet zu lange über diese Datenlücken.
Wer recherchiert ist im Vorteil! Danke https://t.co/Tnjf4MEOc5
— Lothar H. Wieler (@mikrowie) July 9, 2022
Auch Christian Drosten, der Virologe, auf dessen Rat deutsche Politiker in der Pandemie vor allen anderen vertrauen, und der selbst in der Expertengruppe war, allerdings nur bis April, empfahl den kritischen Artikel auf Twitter.
Vierte Impfung für alle! Oder doch nicht?
Der Bericht dürfte damit als umstritten gelten. So wie die Maßnahmen, von denen er handelt. Oder die neuste Empfehlung von Karl Lauterbach zur vierten Impfung für alle. Jeder, der einen entspannten Sommer haben wolle, solle jetzt zugreifen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) sieht das anders und rät nur Menschen über 70 zur Viertimpfung. Auch andere Experten widersprechen Lauterbach.
Die vierte Impfung wird in Deutschland viel zu wenig eingesetzt. Ab 60 senkt sie deutlich die COVID Sterblichkeit. Bei Jüngeren ist mit einem besseren Schutz vor LongCovid zu rechnen. In den Pflegeeinrichtungen bereiten wir eine Kampagne für 4. Impfung vor https://t.co/leYopyOmLm
— Prof. Karl Lauterbach (@Karl_Lauterbach) July 15, 2022


