Corona

Impf-Druck auf Kinder: Die Kritik von Eltern an Senatorin Kalayci ebbt nicht ab

Viele Eltern sehen ihre Verantwortung als Erziehungsberechtigte in Frage gestellt. Außerdem steht die Angst vor Spätfolgen von Impfungen im Vordergrund.

Die 15-jährige Clara wird gegen Corona geimpft. 
Die 15-jährige Clara wird gegen Corona geimpft. dpa/Sina Schuldt

Berlin-Die Kritik an Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) reißt nicht ab –ihre schriftliche Aufforderung an Schüler ab dem zwölften Lebensjahr stößt weiter Ablehnung. „Es geht mir nicht um diese Impfung“, heißt es etwa in einer Reaktion auf einen Bericht der Berliner Zeitung. „Es geht mir um die Art und Weise wie unsere Kinder ,informiert‘ werden sollen. Ein übergriffiges, mit falschen Informationen versehenes Schreiben. Welches mit Hilfe der ‚Moralkeule‘ die Kinder noch weiter unter Druck setzt.“

Im Rundbrief der Senatorin heißt es unter anderem: „Die Corona-Schutzimpfung schützt nämlich dreifach: Euch selbst – die Personen mit denen Ihr Euch trefft – die gesamte Gesellschaft, also uns alle!“ Rund 180.000 Schüler der Stadt haben diesen Brief in der ersten Woche nach den Sommerferien erhalten. Die Ständige Impfkommission beim Robert-Koch-Institut (Stiko) empfiehlt bisher eine Impfung mit den Vakzinen von Biontech und Moderna nur in Ausnahmefällen, etwa bei Vorerkrankungen. Martin Terhardt, Berliner Kinderarzt und Mitglied der Stiko, sprach am Donnerstagabend in der RBB-Abendschau nun von einer modifizierten Empfehlung, ohne allerdings Einzelheiten nennen zu wollen. Man werde der Politik „ein Stück entgegenkommen“, sagte Terhardt lediglich und stellte die Veröffentlichung der überarbeiteten Empfehlung für das Ende der kommenden Woche in Aussicht.

Kritik der Eltern: Druck auf Kinder auszuüben ist unerhört

Vor allem die Argumentation der Gesundheitssenatorin finden viele Eltern verurteilenswert. „Diesen Druck auf Kinder ab 12 und Jugendliche auszuüben und ihnen quasi die Verantwortung für die Gesundheit aller zuzuweisen, finde ich unerhört“, schreibt etwa Nina Lepsius auf der Facebook-Seite der Berliner Zeitung. Den Nutzen von Schutzimpfungen stellen die wenigsten in ihren Reaktionen in Frage. Den meisten geht es um ihre Verantwortung als Erziehungsberechtigte. „Wie soll meine Tochter im Alter von zwölf Jahren eine solch schwerwiegende Entscheidung treffen, ob sie sich impfen lässt oder nicht?“, sagt ein Vater etwa.

Beim Landeselternausschuss gingen bisher nur wenige Reaktionen auf den Kalaycis Vorstoß ein. Der Vorsitzende Norman Heise begrüßte grundsätzlich die Aktivitäten der Senatsverwaltung, die Eltern von der Notwenigkeit von Corona-Schutzimpfungen überzeugen würden. „Familien mit Kindern ab zwölf Jahren sollten in Ruhe über Impfungen reden. Wenn sich die Erziehungsberechtigten nach Absprache mit ihren Kindern für eine Impfung entscheiden, dann ist das völlig in Ordnung.“

Eine pauschale Ablehnung von Schutzimpfungen findet sich in keiner der Reaktionen. „Es ist Aufgabe der Politik, die wissenschaftliche Einschätzung der Stiko zu bewerten“, schreibt etwa Matthias Meier. „Es ist aber auch Aufgabe der Politik, sich über einen möglichst beeinträchtigungsarmen Schulbetrieb Gedanken zu machen und dann, unter Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte, eine Entscheidung zu treffen.“ 

Eine Mutter meint: „Wir sind grundsätzlich überhaupt keine Impfgegner, unser Kind hat alle anderen Impfungen. Hier aber mit jahrelang getesteten Impfstoffen!“ Und weiter heißt es: „Angst macht auch, dass mit keinem Wort erwähnt wird, dass man vielleicht weiß, dass es im näheren Umfeld der Impfung keine Nebenwirkung oder keine ernstzunehmenden Nebenwirkungen gibt. Dass man aber nichts über langfristige Auswirkungen weiß, eben weil es ein neuer und auch neuartig wirkender Impfstoff ist. Das ist ja zum Beispiel mein Grund, mit einer Impfung noch zu warten. Bei einem Kind, was gerade in die Pubertät eintritt und sowieso große körperliche Veränderungen erlebt.“

Zurückhaltend gab sich die Stiko bisher wegen der unzureichenden Datenlage. So waren bei geimpften Kindern in den USA Herzmuskelentzündungen aufgetreten. Das Risiko liegt bei Jungen laut der US-Gesundheitsbehörde CDC höher als bei Mädchen und steigt bei der zweiten Impfung leicht an. Bei Jungen trat demnach nach der zweiten Impfung unter 16.000 Geimpften einmal eine Komplikation auf. Todesfälle gab es keine.

Weniger eindeutig ist die Datenlage bei den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion. Naturgemäß lässt sich das Risiko hierfür nach der relativ kurzen Zeit der Impfpraxis unter Heranwachsenden nur schwer beurteilen. Erschwert wird hierbei eine verlässliche Beurteilung nach den Worten von Stiko-Mitglied Terhardt dadurch, dass sich auch bei Kindern ohne nachgewiesene Corona-Infektion vergleichbare Symptome zeigen wie sie beim sogenannten Long Covid zu beobachten seien. Der Kinderarzt klassifizierte sie mit dem Begriff „Long Lockdown“.

Unter Long Covid sollen Kinder und Jugendliche einer neuen britischen Studie zufolge eher selten leiden. Die Studie wertete die Daten von 75.529 getesteten 5- bis 17-Jährigen aus. Eltern hatten diese in eine App eingegeben. Bei 1734 Kindern fiel der Test positiv aus. Bis auf 77 Kinder hatten sich alle nach 28 Tagen erholt. Nur 25 Kinder hatten auch nach 56 Tagen noch Symptome – 1,8 Prozent. Allerdings betrafen die bis Ende Februar ausgewerteten Daten noch das von der Alpha-Variante beherrschte Infektionsgeschehen.

„Inzidenz und Prävalenz einer Post-Covid-Symptomatik sind im Kindes- und Jugendalter unklar“, heißt es in der Leitlinie zu Long Covid. Betroffen seien eher Teenager als Kinder, sagte unlängst der pädriatische Infektiologe Markus Hufnagel aus Freiburg. Fälle in den ersten zehn Lebensjahren seien deutlich seltener. Hufnagel beschrieb Symptome, die von anderen Virusinfektionen bekannt sind wie eine schwächere Leistungsfähigkeit, Gelenk- und Muskelschmerzen, teilweise auch Hautveränderungen ähnlich Frostbeulen an den Zehen.

Umfrage: Mehrheit der Eltern vertraut auf Urteil der Stiko

Während einzelne Politiker, allen voran Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), in den vergangenen Wochen den Druck auf die Stiko erhöht haben, um die Impfungen von Kindern zu forcieren, scheint das Expertengremium das Vertrauen vieler Eltern zu genießen. Nach einer Umfrage vom Juli im Auftrag der Krankenkassen pronova BKK würde die Mehrheit der Eltern ihr Kind gegen Corona impfen lassen, wenn ein Vakzin für die entsprechende Altersgruppe zugelassen ist. Demnach möchten 28 Prozent ihr Kind auf keinen Fall ohne Empfehlung der Stiko impfen lassen. 43 Prozent würden ihr Kind impfen lassen, wenn Stiko die Impfung empfiehlt. Zwölf Prozent hatten nach eigenen Angaben noch nicht darüber nachgedacht.

Das deckt sich mit dem Tenor der Reaktionen auf das Impf-Rundschreiben von Senatorin Kalayci, die der Berliner Zeitung vorliegen. „Die Fachleute raten hier im Land noch nicht zur Impfung dieser Altersgruppe“, sagt ein Vater, „warum also setzen Politiker sich darüber hinweg?“