Am 10. Dezember ist Internationaler Tag der Menschenrechte. Im kommenden Jahr feiert dieser Gedenktag 75. Geburtstag, denn im Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International nehmen das zum Anlass, die Menschenrechtssituation weltweit kritisch zu betrachten und auf aktuelle Brennpunkte hinzuweisen.
Doch während Menschenrechtsverletzungen etwa in Katar derzeit in aller Munde sind, wird hierzulande eher weggeschaut, wenn es um Menschenwürde in der Pflege geht. Die Journalistin, Menschenrechts-Reporterin, ehemalige Krankenschwester und Ethnologin Melanie M. Klimmer arbeitet an diesem Thema seit vielen Jahren und hat für die Berliner Zeitung das Tabuthema unter die Lupe genommen.
Ausgewrungene Menschenwürde
Wie eine Undercover-Reportage von „Team Wallraff“ (RTL) bei einer Pflegeheim-Kette dieses Jahr offenlegte, gibt es erschreckend perfide Beispiele für Sadismus und Folter in der Pflege: Eine 50-jährige Patientin mit Multipler Sklerose lag wochenlang in einem Heim in Braunschweig nackt und von Hautinfektionen übersäht auf ihrem Bett, ohne dass das Pflegepersonal ihr eine adäquate Schmerz- und Wundbehandlung gewährte. Sie wurde mit sexualisierter Sprache angesprochen. Ein älterer Bewohner in einem Heim in Hessen, der keine Beine mehr hatte, wurde gedemütigt und verlacht, weil sein Bett nass war. Das Pflegepersonal bestrafte ihn und entsorgte persönliche Dinge von ihm.
Dies sind nur zwei Beispiele ungezählter weiterer Fälle, die allein schon der Investigativ-Journalist Günter Wallraff mit seinem Team recherchierte. Die Whistleblowerin des Schlierseer Pflegeskandals, Andrea Würtz, sichtete das Wallraff-Material: „Es wird an diesen Beispielen deutlich, dass es für manche Bewohner keinerlei Schutzmechanismus gibt, der sie vor solchen Gewalterfahrungen in Pflegeeinrichtungen bewahrt. Für derartige ‚Dienstleistungen‘ bezahlen sie noch.“ Auch die Krankenkassen finanzieren mit, obwohl sie nach Paragraf 112 SGB XI ff. die Vorhaltung von Pflegequalität überprüfen müssen. Kein Betreuer, kein Angehöriger war in diesen Fällen zur Stelle.

Der Fachkräftemangel ist gewollt
Das Argument, das bisher in der öffentlichen Debatte funktioniert und lediglich zu kosmetischen Veränderungen an der Wirtschaftsweise im Gesundheitswesen geführt hat, ist der eklatante Personal- und Fachkräftemangel. Zur Erinnerung: Bereits vor der Corona-Pandemie hat es über Jahrzehnte eine verdeckte Rationalisierung gegeben, einen herbeigeführten Personalmangel, um Gewinne zu steigern.
Personalunterschreitungen sind eine Methode, die von den gesetzlichen Kontrollen kaum zu durchschauen ist: In Pflegesatzverhandlungen wird zum Beispiel der Pflegepersonalbedarf auch mal höher angesetzt als er real dann vorgehalten wird. Bei Stichproben des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) fand man zum Teil Unterschreitungen um mehrere Vollzeitstellen. Profiteure sind in diesem Fall die Heimbetreiber.
Missbrauch von Daseinsfürsorge
Mit dem Wandel vom Versorgerstaat nach dem Zweiten Weltkrieg hin zu einem Staat, der von jedem Einzelnen Eigenverantwortung fordert und Eigeninitiative fördert, stand mit Beginn der 1990er-Jahre die individuelle Autonomie im Fokus der Politik. Zunehmend wurde die Daseinsfürsorge – und damit besonders vulnerable, staatlich zu schützende Personen – auch in die Hände privater Konzerne gegeben, die durch Börsengeschäfte jedes Jahr immer noch höhere Gewinne erwirtschaften. Während diese länder- oder staatsübergreifend tätig sind, auch Unikliniken übernehmen und sich globalisieren, agieren die Kontrollsysteme lediglich standortbezogen und auf lokaler Ebene. Die Behörden sind nicht vernetzt und nicht mit Werkzeugen ausgestattet, mit denen einrichtungsübergreifender Missbrauch offengelegt und ausreichend sanktioniert werden könnte. Das ist eine Systemlücke, die jeden Tag ungezählte Fälle von langem Leiden, Körperverletzung und gar Todesfällen begünstigt, nicht aber in einem konzernbezogenen Gesamtzusammenhang gesehen wird.
Wenn man ohne medizinische Notwendigkeit und zur bloßen Arbeitserleichterung Menschen Inkontinenzhosen anzieht, ihnen den Kopf rasiert, um die Haare nicht waschen zu müssen, ihnen Ernährungssonden anlegt, um sie schneller ernähren und Medikamente zügiger verabreichen zu können, oder Dauerkatheter, um Toilettengänge zu ersparen, dann handelt es sich nicht mehr um die Förderung ihrer Autonomie und Selbstständigkeit, sondern um massive Eingriffe in ihre grundlegenden Rechte. Wenn teils systematisch höhere Pflegegrade herbeigeführt werden, weil die Pflegesachleistungsbezüge dadurch ansteigen und die Bewohner einträglicher werden, dann nimmt dieses System Menschenrechtsverletzungen bewusst in Kauf.
Kabarettist Butzko im „Schlachthof“: „Nur in Schieflage rollt der Rubel“
Das Wirtschaftlichkeitsgebot sollte ursprünglich dazu dienen, ausufernde Kosten einzudämmen und gleichzeitig ein hohes Qualitätsniveau zu erreichen. Mithilfe von Überversorgung durch lukrative medizinische Eingriffe einerseits und scheinbar vorgehaltene, aber nicht ausgeführte Leistungen im Bereich der Pflege und Aktivierung andererseits, treiben börsennotierte Konzerne in der Gesundheitsbranche die Kosten für die Versichertengemeinschaft künstlich in die Höhe. Und der Staat verdient über die Mehrwertsteuer für unnötige Arznei- und Hilfsmitteln auch noch mit. Mit Mitteln der Beitrags- und Steuerzahler wird dann das System wieder stabilisiert: Durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz wird jede neue Pflegestelle von den Krankenkassen finanziert und werden die erwirtschafteten Erlöse damit bezuschusst.
Die Einhaltung der Expertenstandards in der Pflege sind als Berufsstandard rechtlich bindend und stehen damit eigentlich über dem Wirtschaftlichkeitsgebot – aber das ist oft nicht gelebte Realität. Obwohl es eine Pflichtverletzung darstellt, Expertenstandards und Ethik-Codizes nicht einzuhalten, kann eine minutenlange Verzögerung in der Patientenversorgung, die beim Patienten unnötiges Leiden verursacht hat, etwa wenn er gestürzt ist und keine Hilfe erhält, juristisch noch mit Personalmangel begründet werden. Aber auch medizinische Leistungen haben dem aktuellen Erkenntnisstand zu entsprechen, wenn Krankenkassen die Kosten übernehmen sollen. Bei Behandlungsfehlern müssen sie ihre Patienten eigentlich dabei unterstützen, Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Bei von Medizinern und Pflegekräften geschönter Dokumentation werden solche Ansprüche jedoch oftmals erschwert oder zunichte gemacht oder hinter Personalmangel versteckt.
Vulnerable sollen sich doch wehren!?
Wie will man aus einer physisch, psychisch oder mental schwächeren, sozial abhängigen, oft mittellosen Position heraus für seine Rechte kämpfen, wenn noch dazu der Fachkräftemangel für jede Vernachlässigung, jeden unbeobachteten Sturz, jede massive Unterernährung, jede Dehydrierung, jedes Wundliegen als zentrales Argument angeführt wird und ein genaues Hinschauen scheinbar unnötig macht? – „Es kann nicht sein, dass wir im Gesundheitswesen von ‚Pflegemängeln‘ sprechen und damit Sadismus und Folter bagatellisieren“, sagt der Pflegekritiker Claus Fussek. Immer wieder Gewalt in der Pflege zu verharmlosen, schaffe ein Milieu der Narrenfreiheit.
Wer schützt die Pflegebedürftigen gleich welchen Alters vor unnötigen, aber lukrativen Behandlungen, vor der Verletzung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit? Wer schützt das Neugeborene vor unnötigen, medizinischen Prozeduren, die nur zu Abrechnungszwecken vorgenommen werden? Wie soll sich die Mutter gegenüber der Behauptung eines Arztes verhalten, der sagt, die medizinische Weiterbehandlung ihres Kindes sei unerlässlich? Soll sie ihm blind vertrauen, wenn die Maßnahme vielleicht doch nur zum Plan gehört, eine pädiatrische Station finanziell zu retten? Wenn sich nicht die Mediziner und Pflegekräfte, die davon wissen, für die kleinen Patienten einsetzen, wer soll es tun? Wo sind jene, die es gar nicht so weit kommen lassen oder jene, die der Mutter dabei helfen, ihre Rechte einzuklagen, und als Zeugen aussagen?
Systematische Menschenrechtsverletzungen
Um eine Handlung als Menschenrechtsverletzung oder Folter bezeichnen zu können, muss sie willentlich geschehen. Wenn der finanzielle Anreiz deutlich größer ist, durch einen frühen Kaiserschnitt unnötigerweise ein Frühchen zu „erzeugen“, und damit erhebliche Sondervergütungen zu bewirken, anstatt die Mutter konservativ zu begleiten und eine normale Geburt zu unterstützen; wenn wissentlich auf einen solchen unnötigen Eingriff hingearbeitet wird, Traumata bei Mutter und Kind in Kauf genommen werden und dies immer wieder so praktiziert wird: Handelt es sich dann denn nicht um ein systematisches Vorgehen, um Menschenrechtsverletzungen, die der Staat mit einer Umkehr der finanziellen Anreize unterbinden muss?
Steckt etwa kein Wille, keine kriminelle Energie dahinter, vulnerable Personen dazu zu benutzen, möglichst viel Geld aus ihnen herauszupressen und dabei hinzunehmen, dass sie physischen und psychischen Schaden nehmen? „Es muss hinterfragt werden, ob Private-Equity-Unternehmen weiterhin zum Preis unglaublichen Leidens ungehindert und in diesem Ausmaß Gewinne maximieren dürfen“, sagt Andrea Würtz. Es müsse bundespolitisches Ziel sein, die Strukturen solcher Gesundheitskonzerne zu durchschauen und die Kontrollsysteme anzupassen.
Wer soll den Missstand beseitigen?
Wer schützt den frischoperierten, jungen Mann, der auf dem Gang liegt und mangels Patientenglocke eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes nicht mitteilen kann? Wenn planbare Operationen so schnell hintereinander erfolgen, dass die pflegerische Versorgung nach einer OP nicht mehr sichergestellt werden kann und dadurch grobe Sicherheitsgefahren entstehen, wer will diesen Missstand beseitigen, wenn das Diktat der Maximalgewinn ist? Während die Pflegekräfte im Normalfall für die fehlende Alarmglocke am Bett verantwortlich sind, ist es unerträglich, dass grobe Systemmängel oft hingenommen werden und an eine Haftung gar nicht erst gedacht wird. Damit die Pflegekraft in einer überbordenden Arbeitssituation gefährliche Handlungen und Unterlassungen ihrer Vorgesetzten aber vor die Ärztekammer und/oder überhaupt vor die (Heim-)Aufsichtsbehörden bringen und diese belegen kann, muss sie diesbezüglich eine penible Dokumentation vornehmen.
Unser Vergütungssystem stützt über die aktuellen Abrechnungsanreize die Konzerne und solche Missstände und nicht die Pflegekraft. Während sinnhafte Verbesserungen in der Pflege nur Kosten verursachen, bringt jede ärztliche, und mitunter unnötige, Intervention dem Haus Geld ein – oft ohne Rücksicht auf die pflegerische Versorgungsqualität im Anschluss. Wird der Eingriff gut begründet, muss er dem Patienten am Ende nicht einmal eine Verbesserung bringen. „Gegen ein Krankenhaus, das alle Abrechnungsmöglichkeiten, die das Gesetz ihm offenlässt, legal ausschöpft, fehlt Patientenschutzverbänden eine Klagemöglichkeit“, sagt der Kölner Rechtsanwalt Hubert Klein. Dies sei nur im Umweltrecht möglich. – Dabei wäre eine Körper und Psyche schonende, sprechende Medizin und Pflege für alle oft effektiver und nicht einmal teurer.
Kollektives Wegschauen
Drei Verfassungsklagen wegen „Verletzung der staatlichen Schutzpflichten“ gegenüber Pflegebedürftigen und auf Hilfe angewiesenen Menschen scheiterten bereits vor dem Bundesverfassungsgericht. Um vor dem Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHTR) als einzelne Person oder als Staat Beschwerde einzureichen, müssen erst innerstaatlich alle Rechtswege ausgeschöpft worden sein. Erst dann ist der Ausschuss berechtigt, schwerwiegende und systematische Brüche mit den internationalen Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vor Ort zu prüfen.
In Deutschland gibt es aber keine Menschenrechtsorganisation, die sich diesem Thema verschrieben hat. Schon vor zehn Jahren wurden rund 240.000 Menschen mit Demenz zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt und rechtswidrig chemisch fixiert, wie das das Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen für die Welt am Sonntag berechnet hat. Kein Pflegeverband sagt, dass es in stationären Einrichtungen des Gesundheitswesens teils systematische Menschenrechtsverletzungen und Folter gibt.
Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur hat Deutschland die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit ratifiziert. Die Unterzeichnung fordert dazu auf, nie wieder wegzuschauen, wenn Menschenrechtsverletzungen stattfinden, sondern diejenigen besser zu schützen, die für sich selbst nicht sprechen können. Das Grauen hat früher in abgelegenen Lagern stattgefunden und nur scheinbar verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention ergeben sich weitere Schutzpflichten des Staates.
Es macht keinen Unterschied: Ob in Pflegeeinrichtungen, großen oder kleinen, kirchlichen oder privaten Krankenhäusern, Kinderkliniken, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung oder Psychiatrien: Es finden heute teilweise unvorstellbare Missstände und auch Menschenrechtsverletzungen statt. Sie reichen von chemischen Fixierungen mit zu Unrecht angewandten Medikamenten über sexuelle Übergriffe und physische und psychische Misshandlungen bis hin zu Unterlassung mit Todesfolge. Sie sind der Allgemeinheit oft bekannt: Der Frisör weiß es, der Blumenverkäufer weiß es, die Hausärzte wissen es, die Angehörigen, die Rettungsdienste, die Bestatter, die Seelsorger. Alle staatlichen Stellen, alle Verbände, alle Verantwortlichen in der Pflege sind informiert. Von Nichtwissen kann keine Rede sein. Meist werden diese Fälle als Einzelfälle dargestellt und selten gründlich aufgearbeitet. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass in der gleichen Einrichtung eine Dunkelziffer besteht. Nur werden diese Fälle nicht zur Anzeige gebracht. Und noch immer kommen wegen Unterlassung angeklagte Verantwortliche mit einem Freispruch davon.







