Gesundheit

Bin ich krank, wenn mir vom Böllern kotzübel wird?

Hypochonder-Kolumne: Misophonie ist, wenn Geräusche wütend machen. Unseren Autor zum Beispiel, als er Neujahr beim Spaziergang in Berlin einen Panzer entdeckt.

Bodenfeuerwerk zu Silvester spiegelt sich in einer Pfütze.
Bodenfeuerwerk zu Silvester spiegelt sich in einer Pfütze.imago/Marius Schwarz

Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt ­­– Misophonie. Und das kam so: Ich sah Videos von der Silvesternacht aus Stadtteilen Berlins, in denen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Dagegen ging es in meinem Viertel gesittet zu: ein bisschen Rumms und Zisch, und am nächsten Morgen lag kaum Müll auf der Straße. Manchmal ist es ja so, dass man sich einer gesundheitlichen Beeinträchtigung erst bewusst wird, wenn die dazugehörigen Symptome ausbleiben. Jedenfalls bei mir ist das so.

Normalerweise reagiere ich empfindlich auf jegliche Form von Beschuss. Vor allem, wenn er klanglich an Maschinengewehrfeuer und optisch an Leuchtspurmunition erinnert. Ich dachte an Jahrzehnte zurückliegende Zeiten, als ich noch im Neuköllner Boddinkiez wohnte und mich am Silvesterabend auf dem Weg zur Stammkneipe in gebückter Haltung vortastete, unter Balkonen in Deckung ging, um der Bombardierung aus oberen Stockwerken zu entkommen. Ich dachte an den inneren Drang, die Heckenschützen ausfindig und ihr überraschtes Gesicht mit meiner Faust bekannt zu machen. Dabei bin ich sonst auf geradezu krankhaft pazifistische Weise harmoniebedürftig.

Ich beschloss also, dem im Rückblick aufkommenden Anfangsverdacht nachzugehen, griff zum Smartphone, tippte „Hass auf Geräusche“ in eine Suchmaschine und stellte erleichtert fest, dass es für diese Empfindung einen Fachbegriff gibt: Misophonie. Ich hatte ja schon mal damit zu tun. Diesmal klärte mich die Internetseite einer Sozialstiftung darüber auf, dass sich der Hass nicht zwangsläufig gegen explosionsartigen Lärm richtet: Sogar Geflüster und Kusslaute können eine Misophonie hervorrufen. Zu den klassischen Auslösern gehören quietschende Kreide auf einer Tafel und aneinander geriebene Styroporplatten. Was viele Menschen lediglich als störend empfinden, macht Misophoniker rasend vor Wut.

Das Schmatzen in der Liste verabscheuungswürdiger Klangbilder brachte mich auf die Idee, dass Misophonie vererbt werden kann. Entsprechende Hinweise aus meinem persönlichen Umfeld ließen diesen Schluss zu. Ich erhalte sie regelmäßig am Esstisch, und tatsächlich fand ich auch diese Hypothese bestätigt. Dank dem Online-Auftritt der ARD erfuhr ich vom Amsterdam Medical Center. Offenbar ist es in der Misophonie-Forschung weltweit führend. Die dortigen Fachleute vermuten, dass Konflikte zwischen Eltern und Kindern ein Auslöser sein könnten. Da die Streitigkeiten oft am Familientisch ausbrechen, verbindet sie der Nachwuchs mit Geräuschen, die etwa dann entstehen, wenn der Vater bei all seiner Motzerei auch noch mampft und schmatzt.

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Berliner Zeitung/Paulus Ponizak
Hypochonder-Glosse
Christian Schwager ist Redakteur für Gesundheit und schreibt alle zwei Wochen an dieser Stelle über seine eingebildeten Krankheiten.

Nun kann ich mich zwar nicht entsinnen, dass in meinem Elternhaus während einer Mahlzeit jemals eine Schusswaffe abgefeuert oder auch nur eine Wunderkerze angezündet worden wäre. Dennoch bin mir sicher, dass ich bei paramilitärisch ausgeführtem Feuerwerk jene misophonischen Reaktionen zeige, die Wissenschaftler nachgewiesen haben. Dass nämlich mein Gehirn die vordere Inselregion und die Amygdala verstärkt aktiviert, die galvanische Leitfähigkeit der Haut zunimmt und das Herz schneller schlägt.

Ganz akut hat mich ein anderes Symptom erwischt, auf einem Spaziergang am Neujahrstag. Zwischen Böllerresten lag ein Kracher, der aussah wie ein Panzer. Ich musste an die Ukraine denken, an die Raketen, die in diesem Moment dort einschlugen und Menschen töteten. Am liebsten hätte ich gekotzt.

Ein Böller in Gestalt eines Panzers
Ein Böller in Gestalt eines PanzersBerliner Zeitung/Schwager