Berlin - „Ich setze mich aktiv dafür ein, dass es dazu kommt“, sagte Kanzler Olaf Scholz noch am Freitagabend bei einer Pressekonferenz zu den neu beschlossenen Pandemie-Maßnahmen über die allgemeine Impfpflicht in Deutschland. Doch ob sie nun wirklich kommt oder nicht, ob sie nur für eine bestimmte Zeit oder nur für eine bestimmte Altersgruppe verfügt wird, wann überhaupt sie beschlossen oder durchgesetzt werden könnte – all das steht weiter in den Sternen. Und all das wird auch zunehmend angezweifelt, nicht erst seit die eigentlich für kommende Woche angesetzte Debatte über die Impfpflicht im Bundestag verschoben wurde.
Fragt man Wolfgang Kreischer als Sprecher des Hausärzteverbandes Berlin und Brandenburg, wie die Ärzteschaft den Diskurs sieht, sagt er: „Eine Impfpflicht hätte sein müssen in der Vergangenheit. Das hat sich keiner getraut.“ Etwa in der zweiten Welle hätte der Arzt aus Zehlendorf eine allgemeine Impfpflicht für sinnvoll erachtet. „Jetzt ist es Kokolores“, wird er deutlich darüber, was er von der aktuellen Debatte hält. „Weil die Omikron-Variante ja nicht so letal ist wie Delta, da außerdem viele schon durchgeimpft sind und viele auch schon genesen. Wir können jetzt sogar die Quarantänezeiten verkürzen. Insofern ist die Verhältnismäßigkeit, jetzt eine Impfpflicht einzuführen, einfach nicht gegeben. Das würde vor keinem Gericht standhalten“, mutmaßt der Mediziner.
„Der Zug für die Impfpflicht ist abgefahren“
Allerdings sei eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wünschenswert: „Wenn ich in einen Bus steige oder ein Amt betrete, im Gesundheitswesen oder dem öffentlichen Dienst, erwarte ich größtmöglichen Schutz“, so Kreischer. „Das Impfen steht zwar ganz hinten bei den Schutzmaßnahmen, aber es ist immerhin wichtig. Ganz vorne stehen weiterhin Masken, Abstandsregeln, Hygiene.“ Es komme jetzt darauf an, weiter Abstand zu halten und Massenveranstaltungen abzusagen. „In der zweiten Welle hatten wir ganz andere Antworten. Jetzt ist der Zug für die Impfpflicht abgefahren“, so Kreischer.
Befürworter der Impfpflicht argumentieren damit, eine fünfte Welle abfangen zu können, etwa im nächsten Herbst. Dazu sagt der Arzt: „Wir wissen doch noch gar nicht, durch welche neue Mutation eventuell eine fünfte Welle ausgelöst werden könnte, auch deshalb wäre eine Impfpflicht jetzt nicht verhältnismäßig.“
Stattdessen würde sie zu erheblichen Überlastungen der Praxen führen – wieder einmal: „Das Problem wäre, dass wir die Diskussionen in den Praxen auszutragen hätten mit den Patienten, die sich nicht impfen lassen wollen. Das ist nicht unsere Aufgabe.“ Es sei Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens, die Bürger im Falle einer Impfpflicht zum Impfen zu bewegen. „Aber wir bekommen das dann ab“, befürchtet Kreischer. „Diese Diskussionen in der Praxis zusätzlich zum normalen Regelbetrieb können wir nicht stemmen.“
Aktuell seien viele Praxen eh überlastet: „Es gibt ganze Praxen, die sind in Quarantäne, dann gibt es Praxen, die impfen neben dem Regelbetrieb am Mittag oder Abend, dann vertreten wir andere Praxen, weil viele Fachärzte keine Corona-Patienten in ihrer Praxis haben wollen. Alles wird zu uns Hausärzten abgeschoben. Viele impfen schon gar nicht mehr, weil es am Ende nicht mehr kostendeckend ist, wir wahnsinnige Überstunden anhäufen und das Personal überlastet ist. Und dann noch die Diskussionen mit Impfunwilligen?“, fragt Kreischer. „Das werden wir in unseren Praxen ablehnen.“
„Omikron kann die Rettung sein“
Überlastung komme auch durch die Booster-Impfung zustande, deren Abstand zur Zweitimpfung von sechs auf drei Monate verkürzt wurde. „Das sind doppelt so viele Patienten in derselben Zeit.“ Zusätzlich monierte der Brandenburger Hartmannbund am Freitag, dass schon wieder nicht ausreichend Impfstoff für die Praxen zur Verfügung stehe – etwa für Booster-willige Jugendliche, die nur mit Biontech geimpft werden sollen. Das kann auch Kreischer für Berlin bestätigen. Dabei hatte doch der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach versprochen, sich um die Impfstoffmängel zu kümmern? „Spahn hat gar nicht auf uns gehört“, beschwert sich der Hausärztechef, „Lauterbach hat auch keinen einzigen Hausarzt in seinem Expertenrat.“ Das sei ein großes Manko, denn die Politik würde von Ärzten beraten, die vom grünen Tisch aus ihre Empfehlungen abgeben würden und „seit zehn Jahren keine Hausarztpraxis mehr von innen gesehen haben. Man nennt es auch die Arroganz der Politik“.

