Eine Zeitlang war es in meinem Freundeskreis beliebt, „urige“ Eckkneipen mit „authentischem Lokalkolorit“ ausfindig zu machen und sich dort auf ein Eisbein, Zwiebelfleisch oder auf eine Bockwurst zum Bier zu verabreden. Je weniger schick – umso besser.
Ich hatte schon damals wenig Lust auf solche Abschreckungsexkursionen. Zum einen esse ich viel zu gerne gut. Zum anderen brauchte ich keine Vergewisserung, dass ich im Gegensatz zu den Typen, die dort beim sechsten Bier mit Korn ins Glas stierten, keine wirklichen Probleme habe. Auch wollte ich meine Zeit nicht in einer stickigen, dunklen Kneipe verbringen, deren Wände aussehen, als seien sie vor dem Rauchverbot zum letzten Mal gestrichen worden.
Kackbraune Türen
Ich ging daher selten mit, auch kein einziges Mal in den Schusterjungen im Prenzlauer Berg, auf den sich meine Freunde im Laufe ihrer zähen Eckkneipenrecherche geeinigt hatten.
Vielleicht war es das Schild mit altdeutscher Schrift, auf dem hier „Deutsche Küche“ angepriesen wurde. Vielleicht waren es aber auch die kackbraun gestrichenen Türen und Fenster, die immer beschlagen scheinen. Vielleicht waren es aber auch meine schlechten Erfahrungen, die ich in anderen Eckkneipen gemacht hatte, die ich auf den Schusterjungen übertrug. Jedenfalls trafen sich meine Freunde jahrelang immer freitags zum Schnitzelessen und Kartenspielen dort, ohne dass ich mich auch nur ein einziges Mal hinreißen ließ, mitzukommen.
Hätte ich das nur mal getan. Stattdessen lief ich viele Jahre mehrmals die Woche auf meinem Weg zur U-Bahn-Station Eberswalder Straße an diesem Urberliner Ecklokal vorbei – bis mir kürzlich endlich jemand die Augen öffnete. Ehrlich gesagt nicht irgendjemand, sondern Fabian Fischer, Inhaber und Gastgeber des wunderbaren Restaurants Bricole, das sich wie der Schusterjunge in meiner unmittelbaren Nachbarschaft befindet und letztes Jahr einen Michelin-Stern bekam.
Ich traf Fabian Fischer auf der Gala der Berliner Meisterköche, einer Veranstaltung, auf der die besten ihres Faches ausgezeichnet werden. Er hatte gerade den Titel „Berliner Gastgeber des Jahres 2022“ verliehen bekommen. Als wir darauf anstießen, erzählte er, dass der Schusterjunge einer seiner Lieblingsläden in unserem Kiez sei. Sein Freund und er würden hier regelmäßig das Würzfleisch und die Königsberger Klopse bestellen. Auch die Weinkarte sei ziemlich gut und preislich sehr fair, weil sie einige besondere deutsche Winzer liste, etwa das Weingut Schäfer-Fröhlich an der Nahe.
Fabian Fischers Freund ist Sommelier im Bricole. Wenn die beiden kein gutes von schlechtem Essen unterscheiden können, dachte ich bei mir, wer dann?

Originale ausgestorben
Gleich am nächsten Abend überschritt ich daher zum ersten Mal die Schwelle des Schusterjungen. Besser spät als nie. Solche Kneipen-Originale sind eigentlich längst ausgestorben, zumindest im Prenzlauer Berg, wo man dafür vom indonesischen Nasi Kuning über vegane Burger bis hin zu japanischem Wagyu vom Teppanyaki-Grill alles bekommt.
Seit den 20er-Jahren existiert diese Eckkneipe an der Kreuzung Danziger und Lychener Straße. Sie hat einige Namen durch, mal hieß sie „Klöckner Eck“, mal „Zur Klause“, bis sie schließlich „Zum Schusterjungen“ wurde. Eine Arbeiterkneipe, die in der DDR die Massen mit Soljanka, Bouletten und Senf-Ei versorgte und heute in privater Hand als Gaststätte geführt wird.
Von außen wirkt sie auf mich immer noch nicht einladend. Innen jedoch hat der Schusterjunge wenig mit der finsteren Eck-Spelunke gemein, zu der ich sie in meiner Vorstellung abgestempelt hatte: Die Einrichtung ist rustikal, aber weder stickig noch dunkel wie befürchtet. Vielmehr umfängt einen ein ländliches „Stubengefühl“, das mich für die nächsten Stunden vergessen ließ, an einer der belebtesten Kreuzungen dieser Stadt zu sitzen. Das männliche Personal trägt ordentliche Hemden zu schwarzer Hose, am Bund ein Küchentuch, mit dem nochmal über den blanken Holztisch gewischt wird, bevor man Platz nimmt. Die Karte gibt es in fünf Sprachen. Man merkt, dass der Schusterjunge viele Stammgäste hat, aber auch in vielen Reiseführern empfohlen wird.
Die Karte führt all das auf, was man hier erwartet: Unter den Kleinigkeiten sind das Kartoffelsuppe, Soljanka, ein Paar Wiener, Würzfleisch und auch die namensgebenden Schusterjungs. In Berlin sind das Roggen-Weizenmisch-Brötchen mit einem kräftigen Geschmack, wie gemacht für alle herzhaften Beläge. Hier werden sie mit Räucherschinken, Käse und Griebenschmalz belegt.
Ich will natürlich das Würzfleisch probieren, bekanntlich der Klassiker unter den DDR-Rezepten, im Westen als Ragout Fin bezeichnet. Fabian Fischer hatte es gelobt, zu Recht.
Wem bitteschön schmeckt so etwas nicht?
Geflügel, Zwiebel, Champignons – in buttriger Mehlschwitze mit Hühnerfond aufgegossen und anschließend im Förmchen mit viel Käse überbacken. Wem bitteschön schmeckt so etwas nicht? Die Rezeptur weicht kein bisschen vom Original ab: Dreieckstoast und Zitronenscheibe liegen ebenso zuverlässig auf dem Unterteller wie die „Worcester Sauce Dresdner Art“ zum Nachwürzen auf dem Tisch steht. Die braucht es aber gar nicht, das Würzfleisch wird seinem Namen gerecht.
Verlässlich nicht nur in der Auswahl, sondern auch im Geschmack sind auch die fleischlosen Speisen im Schusterjungen: Bei den wachsweich bis flüssigen Senfeiern überzeugen der herrlich stückige Kartoffelstampf sowie die Senfsoße, die eine gute Balance aus bitter, scharf und sauer hat. Und auch die kleine Forelle schmeckt sehr solide. Sie wird, was sonst, nach „Müllerin Art“ zubereitet. Ganz simpel, samt Haut und ohne irgendeine Beize, außen kross gebraten. Auch hatte ich fast vergessen, wie gut sich Butterbrösel zu Salzkartoffeln machen. Nur beim labbrigen Gurkensalat fällt die Ideenarmut negativ auf.
Etwas lieblos aus dem Schraubglas direkt auf den Teller befördert wurde auch der essigsaure Rote-Bete-Salat als Beilage zu den Königsberger Klopsen. Sie heißen hier übrigens Kapern-Klopse und sind handwerklich 1A gemacht: Die Hackfleischbällchen sind luftig, das Gericht schmeckt leicht, fast sogar elegant. Denn statt der hellen, oft sehr dicklich-klebrigen Soße serviert die Küche eine ungebundene Weinsoße mit klarer Zitronen- sowie Kapernnote.
Zwischen 7 und 16 Euro kosten hier die eben genannten Gerichte. Meine Flasche Wein, ein 2018er Riesling aus Schieferterrassen-Lage des Weingut Heymann-Löwenstein an der Mosel, kostet 40 Euro, nur unwesentlich mehr als im Einkauf.
Solch bodenständige Preise sind im Viertel ebenso selten geworden wie klassische Speisekarten. Auch wenn hier Klopse, Rouladen und Co. nicht mit Miso, Wasabi oder Dashi aufgepeppt werden, so überrascht mich doch, wie gut man in dieser Eck-Gaststätte essen kann.
Zum Schusterjungen. Danziger Str. 9, 10435 Berlin, tägl. 12–0 Uhr




