Es hat schon vor ein paar Wochen begonnen: Mein Postfach füllt sich mit Einladungen für Weihnachtsessen. Restaurants preisen mir den Gänsebraten mit raffinierter Geheimrezeptur ihrer Küchenchefs an, andere wollen, dass ich ihre Ente mit selbst gerollten Klößen teste, die sie im mit Ofen ausgestatteten Ententaxi verschicken. Wieder andere laden zum Schmücken eines Charity-Weihnachtsbaums ein, wobei sie dabei ihr Menü mit geräucherter Entenbrust zu Schwarzwurzelcreme und später Bratapfel mit Nuss-Butterstreusel servieren.
Sechs Millionen Gänse und Enten landen in der Zeit von Sankt Martin bis Heiligabend in deutschen Bratröhren, ein nicht unerheblicher Anteil davon in den professionellen Öfen der heimischen Gastronomie. Gefühlt könnte ich mich bis zum Tag vor Heiligabend mit Festtagsessen in Restaurants mästen.
Bis letzte Woche hielt ich mich zurück. Solange es noch nicht wirklich kalt war, reizte mich nichts daran. Ich ticke da nicht anders als die meisten meiner Mitmenschen. Weil der Oktober und weite Teile des Novembers zu den wärmsten ihrer Art seit Beginn der Wetteraufzeichnungen zählen, berichteten mir auch Gastronomen, seien die Reservierungen für Gänsebraten und Co. nur sehr schleppend angelaufen. Der Gedanke an ein Weihnachtsessen schien angesichts von bald 20 Grad Celsius, die noch im November gemessen wurden, einfach absurd.

Hinzu kommt natürlich, dass so ein Festtagsbraten im Restaurant extrem teuer geworden ist. Ich habe Preise von bis zu 280 Euro für eine Weihnachtsgans für vier Personen mit allem drumherum gefunden. Dazu muss man wissen: Das ist nicht der Gier der Restaurants geschuldet. Gänse haben sich in den letzten beiden Jahren schon kräftig verteuert, doch in diesem Jahr ist der Preis einer gerupften Weihnachtsgans laut dem Verein der deutschen Gänsezüchter nochmals um 40 Prozent gestiegen.
Schuld daran sind die Vogelgrippe – und der Ukrainekrieg
Alles hängt ja heute mit allem zusammen in dieser Welt. Durch den Krieg stiegen nicht nur die Energiekosten, sondern auch die Preise für Geflügelfuttermittel. Rund 90 Euro im Einkauf kann eine Gans trotz Großhandelskonditionen kosten, besonders wenn man Wert darauf legt, ein freilaufendes, ohne Mastmethoden gezüchtetes Tier aus der Region zu verarbeiten.
Daniel Achilles, ein brillanter, ehemals mit zwei Sternen dekorierter Koch und nun Küchenchef des eins44, hat sich in diesem Jahr für eine Ente in seinem Menü entschieden. Die kostet ihn im Einkauf nur die Hälfte pro Kilo, auch wenn sie von einem hervorragenden Produzenten stammt.
Der niederbayerische Gutshof Polting ist ein Familienbetrieb in der fünften Generation. Bisher bezog Achilles von dort sein Lammfleisch. Den Bauch gibt es auf der aktuellen Menükarte, indisch gewürzt und im Holzkohleofen gegart, mit Spitzpaprika und Mandel. Das Poltinger Lamm gilt als legendär in der Spitzengastronomie und wird von Köchen wie Jan Hartwig über das Münchner Restaurant Tantris bis hin zu Sternelokalen in Berlin bezogen. Doch dann schickte ihm der Gutshof die Ente zum Probieren. Achilles und sein Team vom eins44 waren begeistert und überlegten sich ein passendes Adventsmenü rund um das Federvieh.
Jeden Sonntag ab 12.30 Uhr kann man nun dafür im eins44 reservieren; diese Uhrzeit finde ich phänomenal. Ich liebe es, am Wochenende opulent Mittags zu essen; leider bieten diese Möglichkeit die wenigsten gehobenen Restaurants an. Daher bin ich dieser Weihnachtseinladung sehr gerne gefolgt.

Herrlich salzig-herbe Geschmackskicks
Der Tag war trüb und kalt, ich konnte mir tatsächlich nichts besser vorstellen, als ihn jetzt in diesem wunderbaren Neuköllner Hinterhof beim Essen zu verbringen. Das eins44 ist eine ehemalige Likördestillerie, deren Industriecharme samt Originalfliesen und Werkstattlampen nun als Restaurantkulisse auf zwei Etagen dient. Drinnen ist es wohlig-warm, ebenso wohlig-warm ist der Auftakt des Vier-Gang-Menüs konzipiert: Ein konfierter, abgeflämmter Stör, der auf einer milden Meerrettichcreme angerichtet ist und von einer samtigen Kresse-Velouté umflossen wird. So ein Stör kann manchmal sehr fest bis zäh sein. Hier sind seine kompakten Filets aus der nachhaltigen 25-Teiche-Zucht weich, saftig und perfekt salzig. Ich liebe Kresse, daher könnte die Velouté ruhig kräftiger im Kressearoma und weniger sahnig schmecken. Schön jedoch: Eine rote Brunnenkresse setzt als Dekor zusätzliche Akzente. Und wer will, holt sich zusätzlich mit extra zu bezahlendem Osietra-Kaviar herrlich salzig-herbe Geschmackskicks. Alkoholfrei begleitet wird dieser Gang von einem weißen Kombucha-Tee mit Pu-Erh-Tee gemischt, der eine feine Säurenote durch die Fermentierung hat, aber auch eine fruchtige Pfirsichsüße sowie herbere Weizennoten.
Nach einem hervorragenden Sauerteigbrot mit einem Stück Salzbutter folgt die Ente als Attraktion. Tatsächlich ist es die beste, die ich je gegessen habe – zu dieser Aussage stehe ich. Das Bruststück auf meinem Teller ist perfekt tranchiert, bei der Keule löst sich das Fleisch wie von selbst, und die Haut hat einige fast krachend-knusprige Stellen. Sie schmeckt nach Szechuanpfeffer, Thymian, Honig und Soja und wirkt fast glasiert. Dabei ist die Fettschicht darunter nirgends schwabbelig-dick, sondern nur so fett, dass man sie unbedingt mitessen möchte. Das Fleisch hat ein herrliches Aroma, und die handgemachten, fluffigen Kartoffelklöße sind eine Sensation. Ebenso wie die Soße: maximal homogen und reduziert, aber so, dass sie trotzdem fließt. Neben dem Umami der Ente schmeckt man süße Trauben, Portwein und Rotweinnoten heraus. Ganz klassisch gibt es Rotkohl dazu, doch bei Daniel Achilles wirkt er so leicht wie ein Salat. Nicht Gänseschmalz, salzige Specknoten und Zucker dominieren, sondern frische Säure und sehr dezent nur Zimt. Süße kommt nur von karamellisierten Maronen.
Was für ein schönes Weihnachtsessen, zu dem ich ein Glas Spätburgunder eingeschenkt bekomme: Ein Gewächs vom Weingut Franz, der warm-brotartig schmeckt, aber auch mürbe Tanninnoten hat, die zur Ente wie gemacht sind. Es folgen noch ein Käsegang mit Vacherin Mont-d’Or, der geschmolzen mit Birne, Topinambur und einem Zwiebelsud serviert wird. Und ein Dessert, das mit saftigem Schokoladenbisquit und einem im Akazienblütenaufguss eingelegten Butternusskürbis aufwartet.
Allein schon durch die Ente bin ich mehr als beglückt. Und endlich auch in Weihnachtsstimmung.

eins44 Kantine Neukölln. Elbestraße 28/29, 12045 Berlin. Di–Sa 18–23 Uhr, Tel.: 030 62 98 12 12, info@eins44.com
Das 4-Gang-Menü kostet 95 Euro, 3 Gänge gibt es für 79 Euro. Alkoholfreie Begleitung: 4 Gänge 32 Euro; Weinbegleitung: 4 Gänge 46 Euro


