Am Nettelbeckplatz wurde im August einfach ein Mann erschossen. Die Kugeln trafen den 46-Jährigen vor einem Backshop. Die Polizei tappt im Dunklen. Rache könnte das Motiv sein, heißt es. Gefährlich ist es im Wedding, denken Sie jetzt vielleicht. Dabei ist die Gegend um den Nettelbeckplatz weder Ghetto noch der Kessel von Mariupol, sondern ein entwickeltes Fleckchen Hauptstadt.
Dort gibt es die Kneipe Magendoktor. Hier treffen sich Studenten, Kiffer und Lehrlinge aus Brandenburg. Alle sind unglaublich nett und trinken Fanta-Cola oder Schultheiss und dazu warmen Jägermeister. Und es gibt am Nettelbeckplatz zwei gehobene Restaurants. Das eine, das Ernst, soll Deutschlands bestes Restaurant sein. Dort kocht ein junger Kanadier in zwei Stunden 38 Gänge.

Das Essen schmeckt wirklich gut. Das Problem ist nur: Es geht nicht um den Gast. Denn wenn alle zwei Minuten ein neuer Gang angekündigt wird, kann man sich kaum unterhalten. Und die meisten Gerichte hat man nach einer Stunde wieder vergessen. Außer eine lauwarme, aufgeschnittene europäische Auster mit irgendeinem Algen-Sud. Die schmeckte umwerfend.
Im Ernst am Nettelbeckplatz gibt es 38 Gänge
Wem das zu üppig ist, der kann ins Restaurant Julius gehen. Dort verfolgt man einen „Casual-Fine-Dining-Ansatz“, der aber auch acht bis zehn Gänge beinhaltet. Oder man geht direkt zum Thai-Imbiss Dan Thai 300 Meter die Reinickendorfer Straße runter.

Denn hier erzielt die 70-jährige Wirtin Pii Dan mit einfacheren Mitteln einen ebenso großen kulinarischen Erfolg. Die Produkte – ihr Mann schleppt gerade die Einkäufe in den Laden – werden nicht bei Mondschein geerntet, sondern kommen aus dem Kaufland. Auf langjährige Erfahrung kommt es an, sagt der Mann dazu.
Der Gast ist beim Eintritt in den winzigen Laden erst skeptisch. Alles wirkt provisorisch. Eigentlich besteht der Raum nur aus einem Herd, einer Dunstabzugshaube, einer Vitrine und einem Kühlschrank der Marke Eletrolux. Ganz unten steht eine einsame Flasche Freixenet. Zwei Gäste können an dem Tisch mit der geblümten Wachstischdecke, ein weiterer auf einem Barhocker an der Wand Platz nehmen.

Der Thai-König fehlt: Regimekritik, die keine ist
Die Dekoration besteht aus einem bunten Gemälde einer thailändischen Landschaft und aus Porträts des verstorbenen König Bhumibol und seiner Vorgänger aus der Chakri-Dynastie. Der neue König Vajiralongkorn, der wie Britney Spears Hotpants und bauchfrei trägt, ist nicht dabei. So geht moderne Regimekritik, die rechtlich aber keine ist.
An der Wand hängt ein laminierter Ausdruck: „Hier kocht die Chefin alles selbst! Keine Fertiggerichte. Wir bitten Sie daher um Verständnis, dass für die Zubereitung eine längere Zeit als beim Schnellimbiss notwendig ist.“ Verstanden! Mit Frau Dan ist nicht zu spaßen.

Es herrscht immer großer Andrang. Am besten man kommt an einem Wochentag um 11 Uhr. Man bestellt aus einer kleinen Karte. Die Zutaten dafür liegen alle in der Vitrine. Es gibt vier Fleischsorten: frittiertes Hähnchen, geschmortes und gebackenes Schweinefleisch und knusprige Ente.
Alle bestellen die Nummer 16 für 8 Euro
Alle Gerichte sind einfach und frisch zubereitet. Wir bestellen die 21, Kiaw Nam (8 Euro). Eine schmackhafte Suppe, in deren über Tage eingeköchelter Brühe selbst gemachte Fleischbällchen, geschmortes Schweinefleisch, grünes Gemüse und die besten Wan Tans der Stadt schwimmen.



Zum Hauptgericht bestellen wir den Topseller. Nr. 16, Phad Khana Muh Krob (8 Euro), ist ein simples Gericht. Krosses Schweinefleisch mit wildem Brokkoli in einer würzigen Austernsoße. Dazu gibt es einfach Reis. Ebenfalls wunderbar ist die 9, Khao Man Gai Tord (7 Euro): Reis mit knusprigem Hähnchen, erfrischenden Gurkenscheiben und einer Sweet Chili-Soße, die so klebrig gut ist, dass man sie sich in Flaschen abfüllen möchte. Dazu trinkt man klassische Softdrinks von Coca Cola, Singha Bier oder eben Freixenet Cava – und ist glücklich. Besser kann man dieser Tage in Berlin wirklich kaum essen.

Die Enkel sagen Feierabend, die Wirtin sagt Nein
Hört man sich unter den Stammkunden um, die auf ihre Take-away-Tüten (fast alle bestellen die 16) warten, machen die sich Sorgen. Wie lange wird Tante Dan den anstrengenden Job noch machen? Angesprochen auf die Ängste, lächelt Frau Dan nur: „Meine Enkel sagen immer Feierabend, aber ich sage nein.“ Ob der junge Brite aus dem Ernst auch so viel Durchhaltevermögen hat, wird die Zeit zeigen. Bei der Generation Z weiß man ja nie so genau.
Bewertung: 5 von 5 Punkten!
Dan Thai, Reinickendorfer Str. 96, 13347 Berlin, geöffnet Do–Di 11–21 Uhr, Nur Barzahlung, kann man verzeihen.






