Der Prenzlauer Berg und seine Einwohner geraten ja style-mäßig ziemlich unter Druck. Wollte vor Jahren noch jeder unbedingt hier wohnen, gibt es heute keinen Grund mehr, hierher zu ziehen. Denn waren die Bewohner in den frühen 2000er-Jahren noch die Avantgarde der wieder vereinten deutschen Hauptstadt, die auf Hinterhof-Techno-Partys gingen und irgendwelche Medien-Agenturen gründeten, so sind aus den ehemaligen Trendsettern inzwischen miesepetrige Bedenkenträger geworden.
Eine kleine Aufzählung: Sie fahren alte Volvos. Kleiden sich mit Mitte 50 noch wie Liam Gallagher. Haben so viele Kinder wie Öko-Christen. Wohnen in den vom Erbe ihrer Eltern finanzierten Altbauwohnungen. Wählen grün und sind für die Enteignung von Wohnungskonzernen. Trinken Rosé auf dem Kollwitzmarkt. Kaufen beim LPG-Biomarkt ein. Gehen in die schlechten Restaurants in der Husemannstraße und sind die ersten, die bei zu lauter Musik im Haus die Polizei rufen. Urteil: Ziemlich hängen geblieben.

Wie schön, dass die Zeit ja alle Wunden heilt. Denn einen Tempel dieser Spießer gibt es seit kurzem nicht mehr: das Nola’s im – immer noch scheußlichen – Weinbergspark. Der liegt zwar noch in Mitte, aber fast drei Jahrzehnte pilgerten Tausende der oben beschriebenen Gestalten dorthin, um sich dort Frühstücks-Etageren mit Physalis-Garnitur und Käsekuchen reinzuschaufeln. Ich habe oft gedacht: Dieses architektonisch aufregende Gebäude hat mehr verdient.
Der Kapitalismus hat gesiegt im Prenzlauer Berg
Jetzt ist glücklicherweise Schluss damit. Der Kapitalismus hat gesiegt! Und das ist gut so. Denn während die zugereisten Boomer aus dem P’Berg (Kein echter Berliner würde P’Berg sagen!) den Nachwende-Abenteuerspielplatz konservieren wollen, werden sie spreeseitig von neuen wettbewerbsorientierten Berlinern aus behaglichen weißen Neubauten mit Glasbalkon und Fußbodenheizung angegriffen. Jenen Menschen, denen nicht schon alles in die Wiege gelegt wurde und die für ihre hart erarbeiteten Euros keine Bionade Litschi, sondern echtes Entertainment geboten bekommen wollen.

Und für all diese Menschen ist das neue Nola’s, das jetzt Coccodrillo heißt. Beim Coccodrillo handelt es sich um ein italienisches Erlebnis-Restaurant, das im Juli von einer französischen Investorengruppe eröffnet wurde. Neben der generischen, aber sehr lustigen Bar Bellboy am Gendarmenmarkt, die von israelischen Investoren betrieben wird, ist das Coccodrillo schon der zweite Laden in Berlin, der den Wandel dieser hängengebliebenen Stadt zu Weltmetropole am besten symbolisiert.
Denn im Coccodrillo gibt es keine unverputzen Wände und staubige Plattenspieler, sondern es herrscht lebensbejahender Maximalismus. Amore Frizzante und kampanischer Schlendrian treffen auf das italo-amerikanische Florida der 70er-Jahre. Und was ist das für ein Anblick? Die Wände und Decken sind rot lackiert, überall hängen Spiegel, Fiorucci-Plakate und grelle Neonkunst. Und auch die andere Einrichtung ist wunderbar maßlos: Kopien von Tulip-Tischen mit Marmorplatte nach Eero Saarinen (im Original sau teuer!), puffrote Ledersofas, Zebra-Teppiche, Porzellantiger, und am Eingang begrüßt der Fußabtreter mit den Worten: „Moonwalk to enter“.

Die Kellner sehen aus wie dicke Mafia-Kinder
Und auch die Auswahl des Personals ist ungewöhnlich für Berlin. Dem Prenzlauer-Berg-Klientel macht es ja wegen seiner antiautoritären 68er-Elterngeneration nichts aus, von ungeschulten, schwarz gekleideten Kellnern wie Dreck behandelt zu werden. Das muss irgend so ein masochistischer Fetisch sein.
Wirklich erfolgreiche Menschen dagegen wollen von Servicekräften umsorgt werden. Und im Coccodrillo ist der Kontakt mit den Kellnern so ein Erlebnis, denn die jungen, freundlichen, gemütlichen italienischen Halbstarken wurden mit Auge ausgewählt. Trotz ihrer weißen Jäckchen sehen sie ein bisschen so aus wie Jugendliche aus einem baufälligen brutalistischen Wohnblock am Stadtrand von Neapel.

Statt im Coccodrillo Tagliata zu servieren, könnten sie genauso in der Serie Gomorrha von einem Motorroller aus auf ihre Nachbarn schießen. Kellner scheinen sie jedenfalls erst seit kurzem zu sein. Ihr Handwerk wirkt ein bisschen angelernt und ist doch viel freundlicher als anderswo in dieser Stadt. Amerikanische Servicekultur. Pluspunkt.
Melone, Prosciutto, Arancini, Trüffel und Lambrusco
Kommen wir zum gastronomischen Angebot. Wir sind ein bisschen skeptisch, ob die investierte Big-Mamma-Group angesichts von Personalmangel hier gutes Essen auf den Tisch bringt. Also bestellen wir zum Lunch einfach die Klassiker. Die Vorspeisen sind in Ordnung. Die Melone ist süß und der Prosciutto nicht der beste, aber auch nicht aus dem Supermarkt (8 Euro). Die getrüffelten Arancini (9 Euro) kommen knusprig aus dem Ofen und schmecken gut. Wobei man sich fragt, warum es jetzt nach dem Hype Anfang der 2000er wieder überall alles getrüffelt wird.

Oft ist das zu penetrant (Trüffelöl) oder schmeckt nach gar nichts (frische Trüffel). Das Coccodrillo schafft den schmalen Grad. Trotzdem: Trüffel gehören 2022 nicht mehr auf die Mittagskarte. Positiv überrascht sind wir vom Posten Lambrusco (4 Euro). Diesen (wie hier sprudelig servierten) Rotwein aus der Emilia-Romagna liebten ja die Touristen des Wirtschaftswunders. Danach hatte er lange einen schlechten Ruf. Zu Unrecht: Spritziger Lambrusco ist ein echtes Erlebnis. Bravo Coccodrillo!

Wir bestellen die Pasta mit San-Marzano-Tomaten mit Parmesan (11 Euro) als Zwischengang. Positiv finden wir, dass das Coccodrillo einen Teller Pasta gerne auf zwei Personen verteilt. Ganz so wie in Italien. Und die Nudeln sind voll in Ordnung. Schmecken, wie sie schmecken sollen. Leider fällt der Hauptgang dann völlig durch. Der Teller Rinder-Carpaccio (15 Euro) ist viel zu groß und schmeckt mit getrockneten Tomaten, Balsamico-Creme und viel zu viel Rucola obendrauf nicht nach Italien und 2022, sondern nach Düsseldorf-Oberbilk 2007. Und auch der Nachtisch (Erdbeeren und Tomaten auf einer veganen Mascarpone, 8 Euro) fällt durch. Nicht bestellen!
Wer Geburtstag hat, bekommt ein Ständchen
Insgesamt fällt unser Urteil – wie beim Bellboy – für das durchgestylte Investoren-Restaurant trotzdem positiv aus. Auch weil die Cocktails (je 10 Euro) so schön süß und klebrig sind und die Preise überraschend moderat ausfallen. Und auch, weil man hier mit freundlichen Immobilienmaklern und schmierigen Versicherungsvertretern am Nebentisch nett ins Gespräch kommt. Das erdet.
Und vor allem, weil jeder Gast, der Geburtstag hat, im Coccodrillo von den Gomorrha-Kellnern mit einem freundlichen Tanti-auguri-Ständchen besungen wird. Wahrscheinlich machen sich die Kids in der Küche über den Geburtstagsgast später lustig, aber das ist kein Problem, solange es im Verborgenen bleibt. Auch Zuneigung lässt sich kaufen.

Das Coccodrillo ist also kulinarisch keine Offenbarung. Will man das beste italienische Essen in Berlin genießen, geht man zur Trattoria Da Antonio in der Bismarckstraße. Stellt man sich allerdings das lebensbejahende Power-Interieur des Coccodrillo gepaart mit der wunderbaren Küche von Da Antonio vor, wäre dieses Lokal das beste der Welt.
So ist die Eröffnung des Coccodrillos trotzdem eine Bereicherung. Nur eigentlich sollte man gar nicht zum Essen dort hingehen, sondern um sich einfach mit lieben Menschen zu betrinken. Aber Vorsicht: Lassen Sie politische und intellektuelle Gesprächsthemen bitte zu Hause. Denn wirklich gute Gespräche bestehen eigentlich nur aus Scherzen und Smalltalk. Sie wollen doch kein Bedenkenträger sein, oder?

Tipp: Sie müssen unbedingt die Waschräume im Untergeschoss besuchen. Die Toiletten-Kabinen sind mit Glas verkleidet. Wenn Sie drinnen Ihr großes Geschäft verrichten, können Sie draußen dem Treiben zusehen, während die anderen Benutzer Sie nicht sehen können. Sich dort zu entspannen, erfordert ein bisschen Übung.
Bewertung: 4 von 5 Punkten!
Coccodrillo, Veteranenstraße 9, 10119 Berlin, geöffnet Mo–Fr 11.45–14.45 Uhr, 17.30–0 Uhr, Sa und So 10:30–1 Uhr














