Schanghai Calling

Warum ich 78 Hühnereier in meiner 30-Quadratmeter-Wohnung gebunkert habe

Seit 16 Monaten lebt die Autorin in Schanghai und unterrichtet Deutsch für Chinesen  – jetzt ist sie im strengsten Lockdown der Welt zu Hause gefangen.

Eine Stadt hielt den Atem an: In menschenleerem Schanghai hält ein Gesundheitsmitarbeiter ein Schild, das zum Einhalten der 1-Meter-Abstandsregel erinnert.
Eine Stadt hielt den Atem an: In menschenleerem Schanghai hält ein Gesundheitsmitarbeiter ein Schild, das zum Einhalten der 1-Meter-Abstandsregel erinnert.AP

Schanghai-Zuhause in meinem Vorratsschrank liegen derzeit noch 78 Eier, ein Berg an leicht schlaffem Gemüse, drei Säcke Reis, und zwei notdürftig eingefrorene Hühnerschenkel. Das Wasser wird langsam knapp, Knoblauch und Pfeffer halten auch nicht mehr lange.

Solche Bestandsaufnahmen treiben derzeit alle Schanghaier um. Dabei gehöre ich zu den Glücklichen, die sich noch eindecken konnten, als der totale Lockdown Ende März angekündigt wurde – und eigentlich nur ein paar Tage dauern sollte. Die andere Hälfte der Stadt machte schon vier Tage vorher dicht. Die Menschen dort mussten eiligst in die ausgeplünderten Geschäfte springen, um etwas Essbares zu horten – die hier sonst oft genutzten Lieferdienste waren längst zusammengebrochen. Hunger ist in China ein nationales Trauma und vor allem in Sozialen Medien konnte man die Angst der Nutzer herauslesen, kein Essen zu bekommen.

Schanghai gilt als liberale Stadt. Bisher wurde die staatliche Zero-Covid-Politik geräuschlos und elegant umgesetzt, so dass die 26 Millionen Stadtbewohner nach dem ersten Lockdown Anfang 2020 kaum im Alltag eingeschränkt waren. Wenn ich mit meinen coronagestressten Freunden in Deutschland telefonierte, war ich heilfroh, hier zu sein. Gleichzeitig vermisste ich mein geliebtes Vor-Corona-Berlin.

Jetzt regelt das Nachbarschaftskomitee

Der Lockdown schlich sich so langsam an: Vor einem Monat überlegte ich noch, mich schnell auf die kleine, ruhige Insel vor den Toren der Stadt abzusetzen, damals wurde unsere Uni gesperrt. Kurz danach sah ich bei Spaziergängen mit Flatterband abgesperrte Communities, Aufpasser in weißen Schutzanzügen oder mit himmelblauen Plastikjäckchen. Ich sah Behelfsmauern aus Sperrholz, Kunstrasen und Plastik. Dann plötzlich mussten alle Masken tragen auf den Straße. Dann wurden die Straßen leerer, das Leben zog sich zurück. Dann wurden Coronatests tägliche Routine. Am letzten Tag vor dem Lockdown war ein wenig Weltuntergangsstimmung: Meine Stadt hielt den Atem an.

Schön weit auf: Während des strengen Lockdowns in Shanghai gehören Corona-Tests zum Alltag.
Schön weit auf: Während des strengen Lockdowns in Shanghai gehören Corona-Tests zum Alltag.Imago

Seit dem 1. April ist meine Welt 30 Quadratmeter groß. Highlights des Tages sind neben der schweren Aufgabe, meine Studenten per Zoom zu motivieren, die kollektiven Ausflüge zu den Teststationen. Weil diese gut organisiert sind, ist dieser Ausflug kurz. Manchmal gibt es auch Essensrationen von der Regierung, die ich am Tor abhole, oder das Nachbarschaftskomitee hat Gruppenkäufe organisiert. Die Lieferanten lassen aber nur Großbestellungen als „Wundertüte“ zu. Daher die vielen Eier und Gemüseberge in meinem Schrank. Mein Fenster wurde mein Fernseher, mein Soundtrack und meine Hauptquelle für Information.

Ich wohne neben einem bekannten Luxus-Shopping-Viertel, das gleich an den Ort des ersten Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas grenzt. In meiner Straße leben noch die wenigen verbliebenen ursprünglichen Bewohner der Gegend, bodenständige alte Originale, die im Schlafanzug auf die Straße laufen, dem Jogginganzug Schanghais. Diese Menschen lassen sich nicht so schnell etwas verbieten. Auf dem Hof vor meinem Fenster kam es anfänglich zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen zwischen Wachmann und Bewohnern. Aber die resolute junge Frau, die das Nachbarschaftskomitee leitet, lässt keine Diskussionen aufkommen. Sie managet den Laden, reibungslos.

Die Angst vor Trennungen ist schlimmer als die potentielle Erkrankung

So lernt man allerdings auch mal seine Nachbarn kennen, und ich kam auch zu Genussmitteln, nach denen man kaum zu fragen wagt. So hielt mir ein vergilbter Nachbar im Schlafanzug eine Stange Zigaretten vor die Nase. Dafür verlangte er allerdings auch eine Stange Geld.

Die Chinesen wissen, dass sie bei zu viel Wucher Ärger bekommen, aber gerade in der Geldstadt Schanghai finden sich immer Leute, die Business machen. Findige Schanghaier bieten Lieferdienste für rare Waren an, obwohl eigentlich niemand außer den offiziellen freiwilligen Gesundheitshelfern und Polizisten auf die Straße darf. Aber meist hängen wir nur im Chatprogramm WeChat herum und warten auf Neues vom Nachbarschaftskomitee, finden Tipps, wo man vielleicht etwas bestellen kann, lesen, was in der Stadt los ist – und trösten einander.

Mir persönlich fehlen nur bestimmte Zutaten zum Essen, ein kühles Bier mit Freunden und Spaziergänge in der schönsten Jahreszeit in Schanghai. Andere haben es weniger gut: Eltern müssen ihre Kinder bespaßen, Hundehalter müssen mit den Tieren Indoor-Pipi üben. Am schlimmsten erwischt es die, die positiv getestet werden. Sie werden in menschenunwürdige euphemistisch „Krankenhäusern“ genannten Isolierstationen gebracht. Eltern werden teilweise von Kindern getrennt und Haustiere müssen um ihr Leben fürchten. Das schreckt mehr ab als die potentielle Erkrankung selbst.

In China ist Covid-19 offiziell besiegt worden

Niemand will einen positiv Getesteten neben sich wohnen haben. Auch zwei meiner Nachbarn sind abgeholt worden. Es war ein sehr mulmiges Gefühl. Positive Fälle entscheiden auch darüber, ob das Viertel weiterhin geschlossen bleibt oder ob es in den Genuss der ersten vorsichtigen Öffnungen kommt. Mir steht hier noch mindestens eine Woche Lockdown bevor.

Die Aufrechterhaltung der Zero-Covid-Politik mit Omikron zu diesem Preis ist immer mehr Chinesen ein Politikum. Die Kommunistische Partei hat den Sieg über Sars-COV-2 erklärt und kann jetzt schwerlich zurückrudern. Andererseits ist es auch eine Bedrohung für das Gesundheitssystem, wenn sich das Virus rasend schnell unter 1,4 Milliarden Menschen ausbreitet, auch wenn die die meisten Infizierten nicht schwer erkranken. Ich werde zusehen, dass ich sobald es geht aus der Stadt rauskomme. Ich schau mir die Entwicklung lieber vom ländlichen Raum aus an.