Berlin-Als ich knapp vor der Tagesdeadline meinen Artikel fertiggeschrieben und zur Redaktion geschickt habe, atme ich tief durch, ziehe T-Shirt und Hose aus. Ich greife zu den Laufklamotten und freue mich auf eine Runde Joggen, endlich Bewegung, endlich frische Luft, endlich Freiheit. Aber als ich vor die Tür trete, holt mich die Realität ein: Maskenpflicht! Einen Moment hatte ich vergessen, dass sie hier ja sogar draußen gilt, auch beim Laufen. Ich muss noch einmal umdrehen, in die Wohnung greifen und mich ausrüsten.
Es schreibt zwar kein Gesetz vor, dass man in Tokio nur mit Maske joggen darf. Weil es aber jeder so macht, ist es seit Beginn der Pandemie zur Regel geworden. In Zeiten von Covid-19 trägt man ohnehin auch unter freiem Himmel Maske, ohne dass sich irgendwer drüber aufregen würde. Schon bei der Bekämpfung der Spanischen Grippe vor rund 100 Jahren empfahl Japans Regierung das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes. Die Gesellschaft gewöhnte sich dran.
Auch vor der Pandemie zog man sich, sobald man eine leichte Erkältung hatte, eine Gesichtsmaske an – nicht um sich selbst zu schützen, sondern seine Umwelt. Es ist eine Art der Umsichtigkeit, die ich umso mehr schätze, seit die Pandemie in Deutschland offenbart hat, wie weit verbreitet infantiler Trotz ist. Tokio wird auch deshalb zu einer Art urbanem Mirakel, weil diese Eigenschaft hier weniger verbreitet ist. Ansonsten wäre diese Megalopolis mit 37 Millionen Einwohnern, unendlich viel Beton und Asphalt ein Moloch.
Dass Tokio viel geschmeidiger funktioniert als Berlin, das bevölkerungsmäßig nur ein Zehntel der japanischen Hauptstadt ausmacht, liegt natürlich auch an kluger Stadtplanung. Man setzt auf öffentlichen Verkehr und Grünflächen. Tokios Züge sind in der Rushhour zwar rappelvoll, aber zuverlässig. Doch erst durch die Rücksicht der Menschen ist der größte Ballungsraum der Welt so überraschend ruhig, der öffentliche Raum so verblüffend sauber. Außerdem ist gemessen an der Bevölkerungsdichte auch die Infektionslage noch relativ gering geblieben. Was eben auch an den Masken liegt, die die Menschen überall tragen.
Aber muss das auch beim Joggen sein? Nach 20 Minuten, die ich immer wieder an Feierabendfußgängern vorbeirenne, schwitze ich im Gesicht, die Maske ist klitschnass. Nichts schützt mich jetzt noch vor der neuesten Virusvariante, niemand wäre vor meinem feuchten Atem sicher. Aber die Maske abzunehmen, traue ich mich nicht. Dann stünde morgen sofort ein Artikel in der Zeitung, wie sich ein Ausländer mal wieder nicht an die Regeln hielt.
Mit einer triefenden Maske, die sich bei jedem Atemzug in den Mund saugt, jogge ich eine Stunde lang. Am Ende komme ich niedergeschlagen wieder zuhause an. Hat diese Regeltreue noch irgendwas mit Rationalität zu tun? Irgendwie glaube ich ja, das hat sie, zumindest im regellieben Japan: Man befolgt sie auch aus Achtsamkeit, als Signal an alle anderen, dass man mitmacht. Manchmal ist das nervig. Aber in einer Riesenstadt wie Tokio vielleicht nötig. Außerdem soll Joggen mit Maske die Lunge trainieren.
