Berlin-Schüsse hallen durch die Kreuzberger Nacht, Anwohner wählen den Notruf, vier Männer liegen in ihrem Blut. Wenig später sind schwer bewaffnete Polizisten da, ein Hubschrauber kreist über dem Viertel. Hintergrund für die Schießerei ist ein Streit bei einer illegalen Pokerrunde. Einige der Beteiligten gehören zu einer libanesischen Großfamilie.

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Diese Schießerei – sie ereignete sich im Dezember 2020 und forderte zum Glück kein Menschenleben – ist nur ein Beispiel dafür, dass in deutschen Ballungsgebieten wie Berlin ein Problem herangewachsen ist: die „Clankriminalität“. Nach Einschätzung von Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) ist sie zu einer Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung geworden. Denn sie untergräbt nicht nur das Vertrauen in den Rechtsstaat, sie entzieht sich ihm auch. Konflikte regeln die Großfamilien untereinander. Nicht immer funktioniert das. Dann mündet ein Streit über Reviere, ein Kokain-Geschäft oder eine Frau in eine Messerstecherei oder Schießerei.
Dreiste Überfälle, große Beute: Pokerturniere, KaDeWe und Goldmünze aus dem Bodemuseum
Lange Zeit vermieden Politiker und Journalisten es, Clankriminalität zu thematisieren, hauptsächlich aus Angst, als ausländerfeindlich zu gelten. Doch Clanmitglieder wurden immer dreister:
- 2010 platzen sie in ein Pokerturnier im Hotel Grand Hyatt am Potsdamer Platz und erbeuten 250.000 Euro.
- 2014 überfallen sie die Schmuckabteilung des KaDeWe am Wittenbergplatz und rauben innerhalb von 79 Sekunden Uhren und Schmuck im Gesamtwert von rund 817.000 Euro.
- 2017 stehlen sie eine 100 Kilogramm schwere Goldmünze aus dem Bode-Museum Am Kupfergraben. Die Münze im Wert von rund 3,75 Millionen Euro ist verschollen.
- 2018 überfallen sie einen Geldtransporter auf der Schillingstraße in Mitte. Von der Beute – sieben Millionen Euro – bleibt ihnen nichts. Eine Geldkiste müssen sie am Tatort, sieben weitere auf der Flucht zurücklassen.
- 2019 entwenden sie aus dem Grünen Gewölbe in Dresden 21 Schmuckstücke mit 4300 einzelnen Diamanten und Brillanten im Versicherungswert von insgesamt 113,8 Millionen Euro. Die Beute ist spurlos verschwunden.

Polizei zähl 400 kriminelle Clanmitglieder in Berlin
Es sind immer wieder Angehörige der gleichen Großfamilien, die Verbrechen begehen. 13 dieser weitverzweigten Familien sind für die Polizei relevant, etwa 400 der ihnen Angehörigen sind in Berlin kriminell – und schädigen den Ruf all jener, die den Familiennamen eines Clans tragen, aber ihren Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit verdienen.
Libanesische Kriegsflüchtlinge kamen über Ost-Berlin
Eine der Ursachen, warum sich die kriminellen Clanstrukturen so verfestigen konnten, liegt 45 Jahre zurück. Denn die Mauer, die Berlin einst teilte, war für Menschen, die vom Osten in den Westen wollten, durchlässiger, als viele glauben – zumindest für Kriegsflüchtlinge aus dem Libanon. Nachdem dort 1975 der Bürgerkrieg ausgebrochen war, gelangten Zehntausende über Ost- nach West-Berlin. Sie kamen mit der DDR-Fluglinie Interflug von Beirut nach Schönefeld, wo sie für fünf DDR-Mark ein Transitvisum kauften. Damit wurden sie per Bus zum Grenzübergang Friedrichstraße gebracht. Bei der Einreise in den Westen blieben sie unkontrolliert, weil die Westmächte ganz Berlin als einheitliches Besatzungsgebiet betrachteten. In West-Berlin beantragten die Flüchtlinge Asyl und wurden von hier aus auf die Bundesländer verteilt, allen voran auf Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen. Ihre Asylanträge wurden in der Regel abgelehnt, doch als Kriegsflüchtlinge beziehungsweise als „Staatenlose“ konnten sie nicht abgeschoben werden und erhielten eine Duldung.

Außer den aus dem Libanon eingereisten Palästinensern gab es vornehmlich die Mhallami, eine Volksgruppe, die ursprünglich aus der arabischsprachigen Region Mardin in der Südost-Türkei stammt. Zwischen den 20er- und den 40er-Jahren flohen Zehntausende Mhallami – und mit ihnen Armenier und Aramäer – aus der Region vor der kemalistischen Verfolgung in das Gebiet des heutigen Libanon. Sie erhielten nie die libanesische Staatsbürgerschaft. In den 60er- und 70er-Jahren kamen Kurden aus dem Norden Syriens in den Libanon. All diese Gruppen bekamen Fremdenpässe, in denen unter Staatsangehörigkeit „ungeklärt“ vermerkt war. Damit konnten sie zwar aus-, aber nicht mehr einreisen.
Staatenlose aus Libanon sahen Chance auf Wohlstand in Deutschland
Als Staatenlose blieben die meisten Flüchtlinge im Libanon Bürger zweiter Klasse. Die Mhallami etwa wurden als „Kurden“ verachtet. Ihre Familien rückten enger zusammen und verfestigten ihre Clan-Verhältnisse. Eine Chance auf Wohlstand sahen viele in Deutschland. Als der Krieg ausbrach, machten sie sich auf den Weg. Nach Erkenntnissen der Polizeibehörden begaben sich auch aus Ostanatolien Mhallami nach Deutschland. Sie gaben sich als Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon aus und warfen ihre Papiere weg. Polizisten fanden in Schönefeld in den Papierkörben etliche türkische Pässe. Weil Mhallami Arabisch sprachen, fiel den deutschen Behörden der Schwindel nicht auf.
Im Jahr 1984 kamen etwa 10.000 Flüchtlinge aus aller Welt in West-Berlin und West-Deutschland an. Sie kamen nicht nur aus dem Libanon, sondern auch aus Afrika und Sri Lanka. Ein Jahr später waren es fast 80.000. Ungefähr 60 Prozent von ihnen reisten über Schönefeld ein. Der Berliner Senat lehnte Grenzkontrollen ab mit dem Argument, dass man so den völkerrechtlichen Status als geteilte Stadt anerkennen würde.
Transit durch die DDR
Für die Regierung in Bonn wurden die Flüchtlinge zum Ärgernis, zumal die Stimmung im Land sich immer mehr gegen die Aufnahme weiterer „Asylanten“ richtete. Der Politikwissenschaftler Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin hat die Vorgänge untersucht und 2015 in seinem Artikel „Geschlossene Gesellschaft“ publiziert. Demnach wandte sich im März 1985 die Bundesregierung an die DDR und bat darum, die Einreisen über Schönefeld zu unterbinden und nur diejenigen weiterreisen zu lassen, die ein Visum für das Zielland vorweisen konnten. Die DDR lehnte ab und bezog sich auf das Abkommen von Barcelona aus dem Jahr 1921 über die Freiheit des Durchgangsverkehrs: Durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik könne jeder Ausländer ungeachtet seiner Nationalität, Rasse, Religion und politischen Überzeugung sowie seines Herkunftslandes ohne jegliche Beschränkung im Transit reisen.
„Das war ein richtiges Sommerthema in den Medien“, sagt der Politikwissenschaftler Staadt heute. „Die DDR-Führung erkannte, dass sie damit Druck auf die Bundesrepublik ausüben konnte. West-Berlin kontrollierte seine Grenzen nicht. Und die DDR-Führung wollte die BRD zwingen, die Grenzen anzuerkennen, indem sie Grenzkontrollen durchführt. Dann kam die Erkenntnis, dass in der Bundesrepublik Wahlen anstehen.“
DDR wollte, dass die BRD den DDR-Staat anerkennt
Die DDR-Regierung sah in dem Flüchtlingsstrom eine Möglichkeit, die Bundestagswahlen 1987 zu beeinflussen, und erhoffte sich, dass eine SPD-Regierung die DDR-Staatsbürgerschaft anerkennen würde. Johannes Rau, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, der für das Amt des Kanzlers kandidierte, und Egon Bahr, Mitglied des SPD-Präsidiums, sicherten dies im Herbst 1986 zu. Im Gegenzug konnte Rau verkünden, er habe von der DDR-Führung die Zusage bekommen, dass nur solche Personen im Transit befördert werden, die über ein Anschluss-Visum anderer Staaten verfügen. Das hatten die wenigsten Flüchtlinge. Die Zahl der Asylbewerber sank. Doch bald kamen Flüchtlinge als „Touristen“ oder ließen sich von in Ost-Berlin ansässigen arabischen Studenten einladen, die dafür pro Kopf bis zu 500 Dollar kassierten.
Nach dem Fall der Berliner Mauer kamen innerhalb eines einzigen Jahres noch einmal 20.000 Flüchtlinge aus dem Libanon. „Diese massive Einwanderung sollte für die Stabilisierung und Verfestigung der Gemeinschaften der Libanon-Flüchtlinge in Deutschland entscheidend sein“, schreibt der aus dem Libanon stammende Migrationsforscher Ralph Ghadban in seinem Buch „Arabische Clans – Die unterschätzte Gefahr“ (2018).
Kriminalität war die Antwort auf gesellschaftliche Ausgrenzung
„Syrien hatte zwar seine Grenze für die Libanon-Flüchtlinge geöffnet und ihnen erlaubt, zu arbeiten sowie ihre Kinder einzuschulen, aber die Leute wollten lieber nach Deutschland, wo, wie sie gehört hatten, die Lebensverhältnisse viel besser waren. Aus diesem Grund kamen die Ärmsten der Armen, die bereits im Libanon als Flüchtlinge lebten und keine positive Lebensperspektive hatten, nach Deutschland: die Palästinenser und die Mhallami.“ In Deutschland hätten sie aber feststellen müssen, dass sie unerwünscht waren und dass man ihnen die Teilnahme am Wohlstand verweigerte. Ghadban: „Die Clankriminalität ist ihre Antwort.“
Dass viele Mhallami eigentlich türkische Staatsangehörige sind, bemerkten die Behörden erst in den 90er-Jahren. Die Berliner Polizei und die Ausländerbehörde gründeten im Jahr 2000 die „Gemeinsame Ermittlungsgruppe Ident“ (GE Indent). Sie sollte die wahre Identität besonders gefährlicher Straftäter der „libanesischen Kurden“ herausfinden und sie „aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zuführen“. Aufgrund ihrer Ermittlungen wurden laut Berliner Innenverwaltung innerhalb von neun Jahren 43 Angehörige von Clans in die Türkei abgeschoben; 45 weitere reisten freiwillig aus.
Auch Clan-Boss Mahmoud Al-Zein reiste über Schönefeld ein
Eine der von der GE Ident überführten Personen war Mahmoud Al-Zein, der sich „Der Pate von Berlin“ nannte (so lautet auch der Titel seiner Autobiografie). Er behauptete, in Beirut geboren zu sein. In den 80er-Jahren war er über den Flughafen Schönefeld eingereist und hatte einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Weil er keine Papiere hatte, wurde er nicht abgeschoben. Schon kurz nach der Einreise verübte er die ersten Straftaten und brachte es schließlich zum gefürchteten Clan-Boss. Obwohl sein wahrer Name und seine Herkunft aus der ostanatolischen Provinz Mardin ermittelt wurden, konnte Al-Zein nicht abgeschoben werden. Die Türkei wollte ihn nicht, sie bürgerte ihn einfach zwischenzeitlich aus. Erst im Januar dieses Jahres reiste er in die Türkei aus, die ihn wieder eingebürgert hatte. Der „Pate“ hatte während seiner fast 33 Jahre in Deutschland eine Duldung nach der anderen erhalten und Sozialhilfe kassiert.
Durch die sogenannte Altfall-Regelung haben inzwischen mehr als die Hälfte der Mhallami die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Doch immer wieder heißt es, dass sie wegen ihrer Duldung offiziell nicht arbeiten durften, was eine große Integrationshürde dargestellt habe.
In den Augen der Clanmitglieder ist Deutschland eine Beuteland
„Das sind diese Mythen, die bis heute kolportiert werden“, sagte Migrationsforscher Ghadban in einem früheren Gespräch mit der Berliner Zeitung. „Das Arbeitsverbot war begrenzt auf ein und dann zwei Jahre. Die Frage ist, warum sie jetzt auch nach 25, 30 Jahren nicht arbeiten. Sie haben festgestellt, welche Vorteile die Clansolidarität mit sich bringt. Diese führt unter anderem dazu, dass sie innerhalb einer kurzen Zeit 30, 40 Verwandte mobilisieren können, um andere zu terrorisieren und selbst die Polizei einzuschüchtern.“ Die Clans lebten häufig in geschlossenen Strukturen, schreibt Ghadban. Tief verwurzelt sei ein Stammesdenken, nach dem alles außerhalb der Sippe Feindesland sei. Sein Fazit: „Die deutsche Gesellschaft blieb ihnen fremd und sie betrachteten sie primär als Beutegesellschaft.“
Im November 2018 beschloss der Berliner Senat einen ressortübergreifenden Fünf-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Clankriminalität. Dazu gehören unter anderem die „konsequente Ahndung“ schon kleiner Regelverstöße und mehr Gewerbe- und Finanzkontrollen. „Politik der Nadelstiche“ nennt Innensenator Andreas Geisel das: „Wir werden den Kontrolldruck und die konsequente Ahndung auch geringerer Verstöße fortführen.“ Vier Monate zuvor, im Juli, hatte die Staatsanwaltschaft 77 Immobilien beschlagnahmt, die ein Clan in den vergangenen Jahren mutmaßlich mit Geld aus kriminellen Geschäften gekauft hatte, um seine Profite zu legalisieren, zu „waschen“.
Neben arabischen Clans gibt es aus Clans vom Balkan, aus dem Osten oder Italien
Dass so viel über die Clans geredet wird, liegt daran, dass sie so geräuschvoll agieren, allem voran mit spektakulären Einbrüchen. Kontrolliert die Polizei eines ihrer Mitglieder, läuft schnell die Familie zusammen und bedroht die Beamten. Doch Ermittler und auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter warnen davor, andere Gruppierungen zu vernachlässigen, die ihre Geschäfte und ihre Geldwäsche im Stillen abwickeln – etwa Clans vom Westbalkan, Banden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die italienische Mafia. „Sie sind professioneller als die arabischen Clans“, sagt ein erfahrener Ermittler. „Und nur, weil man von ihnen nichts hört, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt.“
