Berlin-Die digitale Öffentlichkeit ist Sphäre des niedrigschwelligen Austausches. Doch sie ist auch Sphäre von Polemik, Diffamierung und Hetze, begünstigt durch die Anonymität des Netzes. In den vergangenen Wochen zeigte sich das an prominenten Beispielen wie der Grünen-Politikerin Annalena Baerbock, von der ein gefälschtes Nacktfoto kursierte, oder ihrer Parteikollegin Ricarda Lang. Lang bekam einen Shitstorm, nicht etwa in Bezug auf ihre Redebeiträge bei der Talkshow „hart aber fair“, wo sie tags zuvor gesprochen hatte – sondern auf ihren Körper.
Es sind Beispiele von Frauen, die sich in der (digitalen) Öffentlichkeit äußern und Position beziehen. Man könnte sagen: die zur Meinungsbildung beitragen und Politik machen. Doch gerade Frauen und LGBTIQ-Personen werden in der digitalen Öffentlichkeit zur Zielscheibe von strukturellem, geschlechtsspezifischem Hass.
Schutz ist eine Kostenfrage
In einer Umfrage des Projekts Digitale Gewalt des Bundesverbandes für Frauennotrufe (bff) stellten die Verfasserinnen bereits 2017 fest, dass digitale Gewalt in den vergangenen Jahren zu einem immer größeren Faktor in der Beratungspraxis geworden sei. Laut dem Projekt Stärker als Gewalt der Bundesregierung hat jede zehnte Frau über 15 Jahren schon digitale Gewalt erfahren.
Die Angriffe treffen auch Personen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Laut einer Studie der Organisation Plan International war jede zweite Befragte schon einmal von Gewalt im Netz betroffen. Der Hass trifft die, die Urlaubsfotos posten, er trifft Frauen, die sich von ihrem Partner trennen, oder die, die sich gegen Rechts positionieren. Der Hass trifft Feministinnen und Jüdinnen, Schwarze, trans und nicht binäre Personen auf mehrfache Weise. Frauen in finanziell prekären Situationen können nur eingeschränkt reagieren, für ein neues Handy, Sicherheitsvorkehrungen oder einen Anwalt fehlt schlicht das Geld. Es bedeutet Zeit und emotionalen Aufwand, Hassnachrichten zu lesen, zu löschen und zu verarbeiten.
Digitale Gewalt funktioniert nicht getrennt von analoger Gewalt
Digitaler Hass basiert auf patriarchalen Strukturen. Er potenziert sich im Netz und wirkt wie ein Boomerang in die Sphäre gesellschaftlichen und privaten Lebens zurück. Der bff definiert digitale Gewalt als „alle Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder geschlechtsspezifische Gewalt, die im digitalen Raum, z. B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen, stattfindet.“
Doch digitale Gewalt wirkt nicht nur über digitale Techniken oder in der Sphäre des Internets. Sie bestätigt und befeuert gesellschaftliche Muster und wirkt weit in den analogen Raum hinein. Geschlechtsspezifische Übergriffe und digitale Gewalt – das eine lässt sich ohne das andere nicht betrachten. Der bff betont deshalb wohlweislich: „Digitale Gewalt funktioniert nicht getrennt von ‚analoger Gewalt‘, sie stellt meist eine Ergänzung oder Verstärkung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken dar.“ Und der Kolumnist Sascha Lobo schrieb dazu: „Der frauenfeindliche soziale Klimawandel ist im Kern also eine Verschiebung alter, patriarchaler Mechanismen ins Netz, allerdings verbunden mit der netztypischen Eskalation und Beschleunigung.“
Was fällt unter digitale Gewalt? Auch wenn die Anonymität des Internets viele User schützt: Sind die Täter identifizierbar, gilt aus strafrechtlicher Perspektive grundsätzlich eine juristische Bewertung wie bei jeder Form von Gewalt. Lassen sich also Beleidigung, Drohung, Erpressung, sexuelle Belästigung, die Verbreitung pornografischen Materials oder Nötigung feststellen und die Täter identifizieren, sind die digitalen Gewaltformen justiziabel.

Soziale Medien: Da findet sich zum einen Gewalt in den Kanälen der sozialen Medien. In Hasskommentaren unter Beiträgen auf Twitter, Instagram und Co. werden die Verfasserinnen oder Abgebildeten beleidigt, bis hin zu gewaltvollen, sexistischen und sexualisierten Drohungen. Selten geht es dabei um die Inhalte des Posts als vielmehr indirekt oder direkt um das Geschlecht der abgebildeten oder sich äußernden Person.
Hatespeech: Die sogenannte Hatespeech (Hassrede) bezieht sich auf Kommentare, die neben verbalen Angriffen – zumeist gegenüber Marginalisierten – Aufrufe zu weiterführender Gewalt beinhalten. Andersherum gibt es Personen des öffentlichen Lebens, die für etablierte Medien schreiben, auf Blogs oder in digitalen Netzwerken Inhalte veröffentlichen und dort zwar selbst keine direkten Angriffe tätigen, denen jedoch klar sein dürfte, auf welchen Foren etwa polemisierende Aussagen Gehör finden. Die Gefahr geht deshalb nicht nur von extrem eingestellten Kleingruppen aus. Ein misogynes gesellschaftliches Klima, frauenfeindliche Witze oder das Schweigen von Nichtbetroffenen unterstützen geschlechtsspezifische Gewalt mitten aus der Gesellschaft auch im digitalen Raum.
Shitstorm: Den Begriff übersetzt der Duden mit einem „Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht“. Das klingt fast freundlich, wenn man bedenkt, dass über Hashtags mehrere Tausend Tweets in wenigen Stunden dazu führen können, dass Beleidigungen zu bundesweiten Trends werden. Etwa bei Ricarda Lang.
Direktnachrichten: Diese sind noch zielgerichteter. Manche Täter versenden Bilder, etwa die sogenannten Dick-Pics, wie Fotos von Penissen heißen, die unaufgefordert verschickt werden. Laut einer britischen Studie haben 46 Prozent der Frauen schon einmal eines bekommen. In welchen Ligen diese Gewaltform spielt, wird an der Vielzahl von Accounts sichtbar, die in den sozialen Medien sexuell übergriffige und misogyne Nachrichten veröffentlichen, so wie die Seite Antiflirting. Eine der Initiatorinnen begründete ihre Strategie in einem Interview so: „Wenn mir jemand auf der Straße oder im Park seinen Penis zeigt, habe ich zumindest theoretisch die Chance, dass dort noch jemand ist, der das auch scheiße findet und eingreift. Im Chatraum bin ich mit der Person völlig allein.“
Doxing: Dieser Begriff meint die Weitergabe persönlicher Daten von Personen im Internet. Er kommt aus dem Englischen und bezieht sich auf den umgangssprachlichen Plural von „document“, dox. Ziel ist die Einschüchterung und Bloßstellung von Betroffenen. Geht es dabei etwa um private Adressen, bewegt sich die Bedrohung in die analoge Privatsphäre und ist nicht mehr zu verleugnen. Und obwohl Ausspionieren und Abfangen privater Daten strafrechtlich relevant sind, berichten Betroffene, dass Anzeigen ins Leere führten.
Identitätsmissbrauch: Dieser kann bedeuten, dass Hacker von den Accounts ihrer Zielscheiben Spam verschicken. Mit sogenannten Deep Fakes ist es inzwischen möglich, mithilfe künstlicher Intelligenz manipulierte Porno-Videos herzustellen, in denen die Gesichter von den betroffenen Frauen auf die Körper der Darstellerinnen gesetzt werden. Das funktioniert auch mit Fotos, wie zuletzt jenes, das von einer vermeintlichen Annalena Baerbock kursierte.
Cyberstalking: Damit ist das Nachstellen und Verfolgen einer Person über einen längeren Zeitraum mittels internetfähiger Geräte gemeint. Nicht einvernehmliches Filmen und Fotografieren durch versteckte Kameras und das Veröffentlichen dieses Materials erregten Anfang vergangenen Jahres Aufsehen, als ein Täter auf mehreren Musikfestivals Besucherinnen auf der Toilette filmte und die Filme dann auf einer Pornoplattform verbreitete. Sogenanntes Upskirting beschreibt, wenn Täter ohne das Mitwissen der Betroffenen unter ihren Rock filmen, meist in der Öffentlichkeit. Als Folge einer Petition ist Upskirting seit Juli 2020 strafbar.








