Wahl 2021

Wahlhelfer im Gefängnis: „Manche haben gesagt, es ist doch egal, wen ich wähle“

Moritz Engelhardt sieht das anders. Er arbeitet in der JVA Tegel und hilft Menschen dabei, ihr Wahlrecht auszuüben. Damit sich keiner beklagen kann später.

Hinter dieser Mauer wohnen Wahlberechtigte.
Hinter dieser Mauer wohnen Wahlberechtigte.Imago

Berlin-Es gibt eine Wählergruppe, die in keinem Wahlprogramm auftaucht, für die sich Wahlkämpfer kaum, eigentlich gar nicht interessieren. Dafür ist die Gruppe zu klein, und unsichtbar ist sie auch noch. Doch es gibt Männer und Frauen, Bedienstete, die § 73 aus dem Strafgesetzbuch sehr ernst nehmen, dort steht: „Der Gefangene wird in dem Bemühen unterstützt, seine Rechte und Pflichten wahrzunehmen, namentlich sein Wahlrecht auszuüben.“ Und wie geht das?

Darüber haben wir mit Moritz Engelhardt gesprochen, der als Gruppenbetreuer in der Sicherheitsverwahrung arbeitet, sein Arbeitsplatz ist seit 2015 die Justizvollzugsanstalt Tegel. Als vor ein paar Monaten die erste Mail kam, hat Engelhardt sich freiwillig gemeldet, er wollte ein Wahlhelfer sein. Er sagt: „Es war eine Bitte der Anstaltsleitung, als Landesbeamter sah ich es letztlich auch als Pflicht.“ Klar sei das mehr Arbeit, Papierkram vor allem. „Aber ich wollte Bereitschaft zeigen.“

Wer in einem deutschen Gefängnis sitzt, kann grundsätzlich wählen, eine Briefwahl beantragen, seit 1957 ist das gesetzlich geregelt. Das aktive Wahlrecht kann zwar per Richterspruch entzogen werden, aber das kommt eigentlich nicht mehr vor, Landesverrat wäre ein Grund. Selbst kandidieren dürfen Gefangene, die mindestens zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, jedoch nicht. Ihr passives Wahlrecht verwirken sie dadurch für fünf Jahre. Im weltweiten Vergleich ist der deutsche Gesetzgeber sehr liberal. In Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Ungarn, Neuseeland, der Türkei oder in den meisten Bundesstaaten der USA ist es Gefängnisinsassen untersagt, an Wahlen teilzunehmen.

Engelhardt, 47, in eigenen Worten ein klar strukturierter Mensch, ist ein Quereinsteiger im öffentlichen Dienst, und spät dran war er auch. Dachte er jedenfalls, als er die Stellenausschreibung sah. Er hatte Versicherungsfachmann und Flugverkehrskaufmann gelernt und am Flughafen Tegel gearbeitet, danach war selbstständig, es lief mal besser, mal schlechter. Er hatte Lust sich zu verändern. Doch, was ihn hinter den Mauern einer Justizvollzugsanstalt erwarten würden, das wusste er nicht, konnte er nicht wissen.

Wann wird es Internet im Gefängnis geben?

Über Polizeiarbeit gibt es Dutzenden Dokumentationen. Über die Arbeit mit Gefangenen und Verwahrten vor allem Vorurteile, Missverständnisse. Engelhardt sagt: „Ich hatte ein völlig verkehrtes Bild von diesem Beruf. Man weiß wenig darüber, was in den Gefängnissen passiert.“ Und dieses Bild sah so aus: „Ich dachte: Hier arbeiten ein paar alte Haudegen, die gerne mal zulangen und ein Bestraferbedürfnis haben. Das Gegenteil ist der Fall. Man kann in diesem Beruf nur arbeiten, wenn man viele soziale Kompetenzen besitzt.“

Das Gefängnis ist ein politischer Ort, weil politische Entscheidungen auch die Insassen betreffen. Wenn ein Gericht verfügt, dass die Zellen eine Mindestgröße haben sollen, dann muss der Gesetzgeber reagieren. Und wenn neben dem Recht, einen Fernseher, ein Radio oder ein Zeitungsabo zu besitzen, womöglich bald – wenn auch begrenzt – Internet erlaubt sein wird, dann muss das eben vorbereit werden. Es gab bereits erste Politversuche in Deutschland. Die Handynutzung wird auch in Tegel bald Realität sein, nur wann? „Mit der Dauer sind manche nicht zufrieden,“ sagt Engelhardt, „die wollen morgen schon Internet haben. Sie wollen auch wie alle anderen Menschen draußen ein Smartphone in der Hand haben.“

Wenn Gefangenen unzufrieden sind, dann haben sie die Möglichkeit, diese Unzufriedenheit auch zu artikulieren. Sie können Interessenvertreter wählen, Sprecher, die für sie bei der Anstaltsleitung vorstellig werden, etwas Druck erzeugen können. Oder wenigstens Vorschläge machen, Änderungswünsche abgeben, fragen: Wann endlich kommt das Internet? Vor ihrer Wahl gehen die Sprecher auf Stimmfang, setzen sich mit ihren Mitgefangenen zusammen, erklären ihre Ziele und warum sie gewählt werden wollen. „Wir überwachen das nicht“, sagt Engelhardt. Es gehe um selbständige Organisation. Und auch das ist nicht wesentlich anders als draußen in der freien Welt: Die Gefangenen erwarten von ihren Sprechern, dass sie tätig werden, Dinge erreichen.

Ein Wagen der Fahrbereitschaft wartet selbst am Sonntag noch

Engelhardt versucht erst gar nicht, den Eindruck zu erwecken, als würde er mit Menschen arbeiten, die versehentlich hinter Gittern gelandet sind. „Schwierige Klientel“, sagt er, spricht von Testosteron, Persönlichkeitsstörungen. Nicht alle sind zugänglich, bereit, Regeln zu akzeptieren, Argumente anzuhören, die Schuld auch mal bei sich zu suchen. „Ich kommuniziere gerne,“ sagt Engelhardt, „aber wer mir signalisiert, dass er in Ruhe gelassen werden will, dem gehe ich nicht auf die Nerven.“ Sein Berufsethos in einem Satz: „Ich will irgendetwas bewirken, auch wenn es ganz klein ist, in einer speziellen Situation und nur bei einem Menschen.“ Menschen, die sich vielleicht aufgegeben haben, nicht mehr die Kraft haben, das umzusetzen, was in ihrem Vollzugsplan steht.

Wahlhelfer ist Engelhardt nur im Nebenjob, und dazu gehört es, stark verkürzt, sich um die Anträge auf Briefwahlunterlagen zu kümmern und die Umschläge wieder einzusammeln. „Ob sie wählen oder nicht, das geht mich nichts an, das ist Privatsache, da endet unsere Pflicht.“ Deswegen gibt es auch keine Zahlen, aus denen sich eine Wahlbeteiligung ableiten ließe. Engelhardt schätzt, dass weniger als ein Drittel der Gefangenen und Verwahrten in Tegel tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. „Manche haben gesagt: Es ist doch alles das gleiche, es ist doch völlig egal, wen ich wähle, bringt doch eh nichts. Ich versuche, den Menschen dann immer zu erklären, auch privat, welche Auswirkungen das haben kann, wenn man nicht wählt.“ Wer sich aus der Verantwortung herauszieht, so sieht Moritz Engelhardt das, der kann sich hinterher nicht darüber beklagen, dass die Dinge so sind, wie sie sind.

Doch falls es jemanden gibt, der den roten Stimmzettelumschlag noch nicht auf den Weg geschickt hat, ob aus politischer Unentschlossenheit oder mangelnder Organisiertheit, der kann sich sogar bis zum Wahlsonntag Zeit lassen. In Tegel steht jedenfalls ein Wagen der Fahrbereitschaft bereit, um die Stimme zum Wahllokal zu bringen. Denn jede Stimme zählt. Auch die eines Gefängnisinsassen.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.