Kolumne

Thilo Mischke: Der Frühling kommt, der Krieg bleibt

Thilo Mischke hat mit genug Menschen gesprochen, um zu wissen: Der Krieg wird diejenigen, die ihn erlebt haben, nie wieder verlassen.

Der Journalist und Moderator Thilo Mischke
Der Journalist und Moderator Thilo Mischkeimago

„Schreib doch bitte über die Ukraine und den Frühling“, sagte mir meine Mutter am Telefon. Und ich, gerade durch den Volkspark Friedrichshain spazierend, meinte, so würde das nicht funktionieren. „Wie soll ich das denn machen?“, fragte ich meine Mutter. „Mach einfach“, sagte sie. Und legte auf.

Meine Mutter ist recht rabiat am Telefon. Entweder ärgert sie mich, indem sie so tut, als würde sie mich nicht hören und zwingt mich in quälend lange Verbindungsmonologe, die nur aus „Halloooooo“ und „Ich kann dich nicht hören“ bestehen, nur um dann, kurz bevor ich verzweifelt auflegen will, zu sagen: „War nur ein Spaß.“ Oder sie bittet mich, netter zu meinem Bruder zu sein.

Aber nun denke ich darüber nach, wie ich über diesen Frühling und diesen Krieg schreiben kann. Wie das beides zusammenpasst. Ob es passt. Ob es passen darf.

Bilder des brennenden Fernsehturms

Die Menschen, hier im Volkspark, die Gesichter gefaltet von Ängsten, die sie sich nicht trauen zuzugeben, und der ersten warmen Sonne, die Schneeglöckchen aus dem Boden und Menschen aus den Wohnungen treibt. Sie flanieren eingehakt, trinken Kaffee aus Pappbechern mit Plastedeckel, obwohl sie das, vernünftigerweise, nicht mehr sollten. Stöcker werden für satte Hunde geworfen. Paare flechten ihre Finger ineinander und lieben sich nur durch ihre winterkalten Hände. Kinder probieren ihre „Draußen“-Weihnachtsgeschenke aus. Es ist friedlich.

Ich habe im Verlauf der letzten Jahre die Fähigkeit verloren, den Krieg in meiner Wirklichkeit zu ignorieren. Vor allem liegt es daran, dass ich in vielen Kriegsgebieten dieser Welt, als Journalist, eines verstanden habe: Die Normalität ist überall möglich. Ich kann, wie viele der Hunderttausenden Geflüchteten, die Angst vor dem Tod über den Frieden legen. Hier sein heißt nicht sicher sein. Hier sein bedeutet nur: Ich sterbe noch nicht. Der Kopf, der Kopf aber, arbeitet weiter.

So wie ich früher Butterbrotpapier über Fotografien gelegt habe, um sie abzupausen, kann ich heute diese abgepausten Bilder meiner Erinnerungen aus Kriegsgebieten über Berlin legen.

Ich sehe etwas, das mich erschreckt. Ich kann mir den brennenden Fernsehturm vorstellen, die pfeifenden Mörsergranaten, die globale Bedrohung durch Nachbarstaaten. Die Angst wurde in der letzten Woche besonders deutlich, als Wladimir Putin mit Atombomben drohte.

Plötzlich war der Krieg nicht nur in der Ukraine, sondern auch hier. Plötzlich bedeutete Krieg nicht mehr nur hilfsbereit und solidarisch zu sein, sondern er bedeutet vielleicht das Ende von dem, was wir als normal bezeichnen.

Die Seele kennt kein richtig oder falsch

„Hast du Jod-Tabletten?“, fragen mich meine Freunde, und ich sage nein. „Kauf dir die nicht. Das ist gefährlich“, erkläre ich.

Was ich aber habe – und das nur, weil ich sie im Ausland brauche, nicht weil ich ein irrer Weltuntergängler bin, der in einem Brandenburger Bunker Dosenlasagne versteckt –, ist eine sogenannte Grab-Bag. Eine Tasche, in der sich alles Wichtige befindet, sodass ich unabhängig von Bankautomaten in ein anderes Land reisen kann. Ausreisen kann: Pass, Geld, Snickers, eine Wärmedecke und ein Kompressionsriemen, mit dem sich Extremitäten abbinden lassen. Die Tasche steht in meiner Kammer. Ich denke zum ersten Mal in meinem Leben an diese Tasche, obwohl ich in Deutschland bin.

Ich setze mich auf eine Bank, am Spanienkämpfer-Denkmal von Fritz Cremer, hier habe ich im letzten Jahr einen Mann beobachtet, der sich und seine imposante Erektion sonnte. Und fand das frech.

Ich sehe die berstende Lust am Widerstand in diesem Denkmal, das ich seit 41 Jahren kenne. Ich denke an die ukrainischen Zivilisten, die sich diesem Widerstand anschließen werden. Und ich weiß, was die Folge sein wird, weil ich es schon gesehen habe. Weil ich mit unzähligen Menschen darüber gesprochen habe. Ihre Geschichten sind gleich, nur die Gesichter sind anders.

Es wird Frühling werden in der Ukraine, die Menschen werden nicht aus Liebe ihre Hände ineinander verschränken, sondern um sich zu verabschieden. Für immer, oder auf Zeit.

Die Katzen der Ukraine werden miauend hungern, die Kinder werden ihre „Draußen“-Geschenke zurücklassen müssen, die Kaffees werden notdürftig gebaute Molotov-Cocktails sein. Draußen ist man nicht zum Spazieren, sondern zum Besorgen und Überleben.

Dieser Krieg, er wird irgendwann vorbei sein, aber er wird die Menschen, die ihn erlebt haben, nie wieder verlassen. Auf diesen kriegerischen Frühling wird ein Sommer folgen, aber vergessen werden ihn die Menschen, egal auf welcher Seite dieses Konflikts, niemals. Die Seele kennt kein richtig oder falsch. Sie kennt nur krank oder gesund. Wie der Frühling, der nur schön oder hässlich sein kann. Es gibt kein Dazwischen.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.