Essay

Rudolf Scharping: „Grundlagen unserer Sicherheit stehen auf dem Prüfstand“

2011 ist Deutschland aus der Atomkraft ausgestiegen, zeitgleich haben wir die Wehrpflicht ausgesetzt. Wir müssen jetzt viele Fehler korrigieren.

Rudolf Scharping
Rudolf Scharpingimago

Die Menschen in der Ukraine leiden, es zerreißt einem das Herz; die Menschen kämpfen, man kann ihre Tapferkeit nur bewundern. Hilfsbereitschaft und Solidarität sind überwältigend. Empörung und Empathie – so stark solche Gefühle sind, sie können politisches Handeln leiten, nicht ersetzen.

Ja, Putins Krieg tötet, bricht Völkerrecht und will die europäische Ordnung zerstören, die seit der Schlussakte von Helsinki 1975 entwickelt wurde. Bundeskanzler Olaf Scholz hat das in seiner Regierungserklärung vom 24. Februar eindrucksvoll dargelegt. Einer seiner Vorgänger, Helmut Schmidt, hatte im September 2014 (nach der Besetzung der Krim) gewarnt: Niemand wolle Krieg, „wohl aber müssen wir Angst vor dessen wachsender Wahrscheinlichkeit haben.“

Wie durch ein Schlaglicht wird deutlich: Deutschland (und Europa) haben die Grundlagen gesicherter Staatlichkeit und gesicherter wirtschaftlicher Kraft beschädigt. In Deutschland war 2011 ein entscheidendes Jahr. Nach der Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima wurde beschlossen, aus der Nutzung der Atomenergie auszusteigen. Im gleichen Jahr wurde die Wehrpflicht ausgesetzt.

„Wandel durch Handel“ ist eine falsche Leitidee

Zunächst zur Sicherheit der Versorgung mit Energie: Europa importiert rund 60 Prozent der benötigten Energie. Deutschland ist da keine Ausnahme, sondern Spitzenreiter. Europa und Deutschland haben immer Energie und Rohstoffe importiert – daran wird sich auch nichts ändern, solange wir ein erfolgreiches Industrieland mit gut bezahlten Arbeitsplätzen bleiben wollen. Windräder, Autos, Maschinen, Batterien – wir importieren die notwendigen Rohstoffe. Wo Solarzellen verbaut werden, sind rund 80 Prozent China drin. Wir beziehen Titan, Chrom, Molybdän, Kobalt, Kupfer, Zink, Coltan, seltene Erden und vieles mehr aus vielen Teilen der Welt, auch sehr weit entfernten.

Dazu gehören auch Libyen, Irak, Kolumbien, Brasilien; Australien, Nigeria, Kongo, Südafrika, China, Kasachstan  – die Liste ist tatsächlich länger, Länder wie Katar oder die Emirate sollen bald dazugehören. Ein „Who is who“ in Sachen Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte, sozialer oder ökologischer Standards ist das nur sehr bedingt. Dennoch gilt: Die internationale Arbeitsteilung schafft Wohlstand und Sicherheit für alle. Die Sicherheit der Lieferungen, die Freiheit der Handelswege, die Diversifikation der Quellen – all das erfordert internationale Zusammenarbeit, aufbauend auf internationalen Regeln.

„Wandel durch Handel“ – das ist eine griffige Formulierung, aber als Leitidee war das schon immer falsch. Wer das notwendig dichte Geflecht des wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen Austausches, wer den Aufbau von Verständnis, wer Respekt vor Geschichte, unterschiedlicher Kultur und Zivilisation verkürzt auf den Import oder Export von Gütern, verschüttet praktisch alle Ansatzpunkte für friedlichen Dialog, auch Koexistenz. Letztlich schadet das auch den Zielen von mehr Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie. Sie kann man ja nicht einfach exportieren wie eine Maschine; wir können stolz sein auf das, was wir heute als Ergebnis langer politischer und gesellschaftlicher Kämpfe erreicht haben; aber eben nicht selbstgefällig oder überheblich.

Für die Zukunft haben wir zu wenig Strom

Setzen wir das Beispiel „Energie“ etwas fort: Wenn wir Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugen wollen, mit Hilfe von Wind, Sonne oder Biomasse; wenn wir gleichzeitig unsere Wirtschaft weitestgehend frei von fossilen Stoffen gestalten wollen; wenn wir (endlich) konsequent digitalisieren – dann bitte reinen Wein einschenken. Wir werden dafür enorme Mengen Strom benötigen, mindestens vier Mal so viel wie heute. Das ist eine gigantische Aufgabe. Dafür reicht das Territorium Deutschlands mit seinen natürlichen Bedingungen nicht aus. Wir haben weder die Fläche noch haben wir genug Sonne oder Wind. Ob wir den notwendigen langen Atem haben, die Weitsicht und den Wirklichkeitssinn, das werden die kommenden Jahre zeigen.

Mit unserem gegenwärtigen „Kraftwerkspark“ aus Windanlagen „ernten“ wir ca. 25 Prozent der installierten Leistung; aus Sonne gewinnen wir Strom, der etwa 10 bis 12 Prozent der installierten Leistung entspricht. Das spricht nicht gegen deren weiteren Ausbau, im Gegenteil – aber es spricht für eine nüchterne Einschätzung der technischen Möglichkeiten sowie der politischen Notwendigkeiten. Dazu gehört, dass wir Speicher haben und Strom vom Ort seiner Erzeugung jederzeit verlässlich und preisgünstig zum Verbraucher transportieren können – davon sind wir weit entfernt, wenn man nur einmal die zukünftig notwendigen Stromtrassen, deren Planungs- und Bauzeiten mit den Zielen vergleicht, die wir uns politisch setzen.

Wir brauchen ein transeuropäisches Stromnetz

Der Vertrag der Koalitionsparteien hat daraus eine Konsequenz gezogen: man könne „idealerweise“ bis 2030 aus der Verstromung von Kohle aussteigen; dazu müssten Gaskraftwerke gebaut werden, die später auch mit „grünem Wasserstoff“ betrieben werden können. Die einfache Wahrheit ist: je mehr Strom wir aus Wind oder Sonne erzeugen, umso mehr Speicher, Kraftwerke und leistungsfähige intelligente Netze werden benötigt, die schnell einspringen können, wenn notwendig.

Die Berichte des Weltklimarates und das Pariser Abkommen zeigen: wenn wir das 1,5 Grad Ziel erreichen wollen, müssten wir 730 Gigatonnen CO2 aus der Atmosphäre zurückgewinnen, eine gewaltige Menge.  Die Technologien sind da; das zeigen uns Berichte zum Beispiel der Bundesanstalt für Materialforschung, Forschungen an der Ruhr Universität Bochum, manche Anlagen und eine Fülle wissenschaftlicher Publikationen. Hier haben Deutschland und Europa (noch) die Chance, weltweit technisch führend zu sein beim Schutz der Lebensgrundlagen.

Wir brauchen neue Energiepartnerschaften

Deshalb sollten wir noch einmal neu nachdenken über unseren „Kraftwerkspark“. In Hamburg befindet sich das modernste Kohlekraftwerk der Welt. Es steht still – und womöglich beginnt in diesem Jahr sein Abriss. Damit verschwände nicht nur ein schnell regelbares (also ziemlich flexibel einsetzbares) Kraftwerk; Deutschland würde sich auch einer Technik berauben, die andere Länder dringend brauchen, die nicht vollständig (jedenfalls nicht so schnell) auf fossile Energie verzichten können – oder wollen, wie gerade Frankreich oder Belgien zeigen, indem sie weiter Atomenergie nutzen. Mindestens wäre viel gewonnen, wenn die mehr als ein Jahrzehnt alte Idee transeuropäischer Netze für den Transport von Strom oder Gas endlich energisch umgesetzt würde.

Wir brauchen neue Energiepartnerschaften, in Europa und mit Staaten wie beispielsweise im Nahen Osten oder Nordafrika. Aramco aus Saudi-Arabien oder die Emirate bauen ja nicht nur neue Städte, sondern riesige Parks, in denen „grüner Wasserstoff“ erzeugt wird, mit Solarenergie und Geothermie (ein in Deutschland vernachlässigtes Thema). Partnerschaften zur Energiegewinnung mit diesen Staaten, wie sie jetzt von Wirtschaftsminister Habeck vereinbart werden, waren vor ein paar Wochen noch undenkbar. Auch die Staaten Nordafrikas könnten umweltfreundliche Energieerzeugung und industrielle Wertschöpfung mit uns teilen – also auch Arbeitsplätze schaffen und Migrationsdruck mindern. Diese Überlegungen des früheren Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Gerd Müller, sind noch immer ein zukunftsweisender Beitrag zu umfassend gedachter Sicherheit.

2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt

Wie aber steht es um unsere Sicherheit? Nach der Deutschen Einheit nahmen wir uns die Friedensdividende und sahen unsere Freiheit als gesichert, „umzingelt“ von Freunden. Der „2+4 Vertrag“ sah eine Obergrenze deutscher Streitkräfte von 370.000 Soldaten vor. Heute hat die Bundeswehr einen Umfang von weniger als der Hälfte. 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt; die Ausgaben sanken auf einen Tiefpunkt von 1,1 Prozent der wirtschaftlichen Gesamtleistung. Die Folge ist schwindende Leistungsfähigkeit der Ausrüstung, mangelnde Verfügbarkeit der Waffensysteme, schwindende Inter-Operabilität in Europa und NATO. Die tragenden Säulen gemeinsamer Sicherheit hatte Deutschland damit fahrlässig geschwächt.

Dass dies alles mit Behauptungen garniert wurde, dass nur „Profis“ den Anforderungen genügten und dadurch Verteidigungsfähigkeit besser und billiger zu haben sein würde, war und ist Ideologie. Das alles wurde (erstaunlich genug) angeführt von der Union, die Kanzlerin, Finanzminister und Verteidigungsminister*innen stellte. Konzeptioneller Wirrwarr kam hinzu: 2010 wurde eine Bundeswehr mit 250.000 Angehörigen, 50.000 Wehrpflichtigen und 75.000 Zivilbeschäftigen geplant; 2011 wurde das alles über den Haufen geworfen. Damals sollte auf vier Soldatinnen und Soldaten eine Person in der zivilen Verwaltung kommen. Heute stehen rund 184.000 Soldatinnen und Soldaten aber rund 82.000 zivile Beschäftige gegenüber.

Sicherheitsvorsorge ist immer langfristig angelegt

Gravierender: Die Fähigkeiten der Bundeswehr sollten sich aus der Krisenreaktion herleiten. Diese katastrophal falsche Weichenstellung löste keine breite politische Debatte aus, im Gegenteil. Richtig bleibt: der grundgesetzliche Auftrag der Bundeswehr ist die Sicherheit Deutschlands und seiner Bündnispartner; die dabei notwendigen Fähigkeiten können (!) auch in der Krisenreaktion und in internationalen Friedensmissionen genutzt werden. Dieser Konsens kehrt zurück – und das ist fundamental wichtig. Die Soldatinnen und Soldaten haben das verdient, leisten sie doch trotz allem Herausragendes in Friedensmissionen und auch in Deutschland, wenn Not am Mann ist.

Sicherheitsvorsorge ist immer langfristig angelegt oder sie ist untauglich. Langfristig kann Sicherheitspolitik nur sein, wenn es dazu einen strategischen und politischen Grundkonsens gibt. Ebenso wichtig wird sein, Sicherheit für die Garanten unserer Sicherheit zu schaffen. Das erfordert einen (vielleicht sogar institutionell gesicherten) Konsens, der Wahlperioden und Parteigrenzen überdauert. Dazu bietet die Bildung eines Sondervermögens eine Chance. Sie darf nicht vertan werden in ritualisierten Debatten, die nur alte Denkmuster wiederholen.

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