Berlin-Letztens fragte mich ein Paar nach dem Weg. Ich wies in die Richtung. Da stürzte das Fahrrad um. Der Mann hatte nach der Tasche im Korb gegriffen und den Sicherungsgurt nicht gesehen. Sie rannten davon. Aber das ist eigentlich nichts Besonderes hier. Immer wichtig: Tasche gut sichern, sie beim Fahrradabschließen niemals abstellen.
Seit 15 Jahren ist der Kotti meine U-Bahnstation, mein Gemüseladen, meine Sparkasse, meine Apotheke. Der raue Rewe hat gerade renoviert, davor liegt der vertraute Müll, sitzen die vertrauten Junkies oder Bettlerinnen. Im Rondell inmitten des Kreisverkehrs sprießt im Sommer immer mal der Hanf, im Winter bilden sich Zeltsiedlungen von Obdachlosen.
Wer es nicht gewohnt ist, erschreckt gehörig wie der Herr in gutem Mantel, der mit entsetztem Augenflackern fragte, wo er denn hier sei. Er war mit der U-Bahn in die falsche Richtung gefahren. Ein Schweizer. Aus Zürich. Der hatte zu Hause was zu erzählen.
Furchtsame Typen oder solche, die es reinlich lieben, ziehen nicht in diese Gegend. Aber hier leben, eng beieinander, ganz überwiegend jene Leute, die in der Stadt die billigen Jobs machen, die jede Miet- und Strompreiserhöhung in Not bringt, die in Nachbarschaftsinitiativen mitmachen, in die Moschee am Kotti gehen und es ruhig lieben.
Das Problem sind die vom Umsteigepunkt, von den finsteren, schwer einsehbaren Nischen rund ums Architekturdesaster Neues Kreuzberger Zentrum angelockten Kriminellen. Im letzten Quartal 2021 registrierte die Polizei hier 2309 Delikte: 455 Diebstähle, 264 Fällen von Körperverletzungen, 61 Delikte der Kategorie „Nötigung, Freiheitsberaubung, Bedrohung“, 93 Raubüberfälle. Den stärksten Zuwachs trugen 758 Rauschgiftdelikte und 216 Verstöße gegen das Asylrecht bei – Straftaten, die häufig gleichzeitig festgestellt werden. Das geschieht bei Kontrollen. Gut möglich also, dass die Straftaten früher ähnlich oft auftraten, aber nicht bemerkt wurden.
Schleichend geht ein öffentlicher Raum, in dem sich Menschen angstfrei bewegen, verloren. Soll dieses muntere Quartier wirklich zur No-go-Zone werden? Vorerst stellt sich Homo sapiens auf die aggressivere Umwelt ein. Bei mir schaltet ein Profiling-Gen tief im Stammhirn einen erfahrungsbedingten Wachmodus an, sobald ich mich dem Kotti nähere. Wer steht wo? Wo sammeln sich Grüppchen junger Männer? Um die schmalen Dealer, die nervös an der U-Bahntür stehen, mache ich einen Bogen. Rennt irgendwo einer wie angestochen los? Das heißt: Alarm.
Schüsse in der Nacht
Manchmal höre ich nachts durch das offene Schlafzimmerfenster Schüsse, lese am nächsten Tag von Verletzten. Gangs tragen Konflikte auch mit Messern aus. Ja, wir sind in Berlin, Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Und ich widerspreche – im Fall Kotti – der Behauptung, die echte Sicherheit sei viel besser als die gefühlte.
Es gibt sie bereits, die Polizeiautos neben dem Gemüsestand. Dann sieht man Polizisten, die Männer ausfragen, die so aussehen wie jene, um die ich einen Bogen mache. Oft sind sie mit Kabelbindern ruhiggestellt. Einmal türmte einer. Der Polizist und seine Kollegin (Typ gut trainiert, blonder Pferdeschwanz) griffen ihn schon an der Bushaltestelle. In Sekundenschnelle tauchten einem Dutzend schreiender Männer auf, die so aussahen wie jene, um die ich einen Bogen mache. Da brannte die Luft – bis ein zweiter Streifenwagen kam.
Gebt den Ort den Benutzern zurück
Es geht so nicht weiter. Der Platz am Kottbusser Tor braucht die stationäre Polizeiwache, 24 Stunden, sieben Tage die Woche besetzt, dazu Streifen, die auch mal auf die U-Bahnsteige gehen, damit die Dealer harter Drogen merken, dass sie hier nicht die Bosse sind. Ohne Videoüberwachung ist das schwierige Gelände nicht zu sichern. Auch der Vorschlag, den Bereich unter der U-Bahn-Trasse gut auszuleuchten, ist plausibel. Wer mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Koffern den Aufzug benutzen will, muss derzeit über einen Gruselparcour.
Es heißt, Polizeipräsenz auf dem Kotti sei heikel, weil die sehr linke, polizeifeindliche Szene Kreuzbergs ihr Revier aggressiv verteidigen würde. Nähme man das ernst, hieße es: Der Rechtsstaat gibt auf. Der Ort muss wieder seinen Benutzern gehören.


