Ich stehe in der Mitte einer großen Halle in Korczowa, im tiefsten Osten Polens, nicht weit von der polnisch-ukrainischen Grenze an der Autobahn A4, Richtung Lwiw. Früher war hier ein Einkaufszentrum, dann ein Baustofflager. Das Gebäude ist nichts weiter als ein Wellblechschuppen, wie es sie so viele in der Nähe von Grenzen gibt. Als Russland die Ukraine angriff und viele Flüchtlinge in den Westen strömten, füllte sich die Halle mit Tonnen von Spenden, Feldbetten und zugleich: mit menschlichem Elend. Heute befindet sich hier eines der spontan errichteten Aufnahmezentren, in denen Flüchtlinge erste Zuflucht finden.
Neben einem Stand, wo medizinische Hilfe und Windeln angeboten werden, steht Anastasiia Khilko, kurz Nastia. Bis vorgestern war sie Kammersängerin und Dozentin an der Nationalen Musikakademie in der Ukraine, in Kiew. Die 38-jährige Frau stützt ihren Kopf ab. Neben ihr stehen ihre Kinder, der zehnjährige Sasha und der siebenjährige Vitja. Als wir ins Gespräch kommen, schlagen die Jungen die Themen vor, über die wir diskutieren sollen:
„Mama, zeig doch mal, wie der Panzer die ganze Nacht in unser Fenster leuchtete!“
„Mama, erzähl doch, wie unser Kindergarten bombardiert wurde!“
„Mama, zeig doch dieses Video, wie Mädchen Molotow-Cocktails auf Panzer werfen!“
Nastia erklärt mir, was es mit der „Drei-Wände-Regel“ auf sich hat: Der sicherste Ort zum Verstecken ist dort, wo mindestens drei Wände einen Menschen von der Außenwelt trennen. Deshalb lag sie, als die Sirenen in Kiew heulten, mit den Jungen im Flur ihrer Wohnung im Stadtviertel Troieshchyna, östlich des Flusses Dnepr. Als die Sirenen ertönten, konnte sie Nastia nicht hören, weil sie in ihrer Wohngegend ausgefallen waren. Sie wusste trotzdem, dass sie aufheulten. Denn die junge Frau verfolgte den Telegram-Account der Kiewer Stadtverwaltung.
„Als die Bomben fielen, hat Sasha Computer gespielt“, wirft ihr Sohn Vitja jetzt ein. „Und wir haben Mama gesagt, sie soll nicht weinen.“ Darauf sagt die Mutter Nastia: „Wir haben es geschafft, einen Bus vom östlichen Dnepr-Ufer zum westlichen zu erwischen, was nicht einfach war. Denn es ist schwierig, den Fluss zu überqueren. Und in der Stadt gibt es nicht genug Benzin. Als wir die Stadtgrenze verließen, verabschiedete sich auch das Geheule der Sirenen von uns.“

Nastia zeigt mir Fotos aus Butscha, einer kleinen Stadt 50 Kilometer von Kiew, die zum Schauplatz grausamer Manöver des russischen Militärs geworden ist. „Der Feind schießt auf Häuser und Autos, tötet Zivilisten und sogar Kinder“, berichtet der Stadtrat von Butscha. Nastia hat dort einen Freund, der ihr kürzlich eine Nachricht geschrieben hat. „Wir sind im Keller, weil Raketen auf uns fliegen. Sie haben uns gesagt, dass Verstärkung frühestens morgen eintreffen wird. Ich liege auf einer Matte. Meine Mutter sitzt auf einer Bank und ruht sich aus. Falls eine Rakete unseren Wohnblock trifft, kommen wir nicht mehr heraus, weil wir uns mit einem kaputten Schloss im Keller eingeschlossen haben. Alles zittert. Sowohl das Gebäude als auch unsere Körper.“
Nastia weiß noch nicht, wohin sie gehen soll. Wenn sie ehrlich ist, hat sie keinen Kopf für solche Gedanken. „Vielleicht nach Potsdam, ich habe dort eine Tante?“, überlegt sie laut. „Oder nach Israel, wo meine Mutter lebt?“ Dann sagt Vitja: „Unser Vater ist auch nach Israel gegangen. Er verließ uns. Aber das ist passiert, bevor der Krieg begonnen hat.“
Nastia sieht Vitja schräg an. Ihr Sinn für Humor kommt wieder zum Vorschein, als ich sie nach den Bedingungen im Aufnahmezentrum frage. „Großartig!“, sagt sie und lacht. „Als ich hysterisch wurde, haben sie mir sofort Tabletten gegeben.“
Männer können aus der Ukraine nur über Umwege fliehen
Nastia ist einer von mehr als einer Million Flüchtlingen, die in den letzten Tagen die ukrainisch-polnische Grenze überquert haben (Stand: 6. März 2022 laut UNHCR). Von der Aufnahmestelle aus, wo man essen, sich aufwärmen und schlafen kann, wird sie ihre Reise bald fortsetzen und am Ende in der Schweiz landen. Die Verteilung und der Weitertransport der Flüchtlinge liegt weitgehend auf den Schultern von Freiwilligen. Nicht einmal das offizielle polnische Banner, das am Eingang der Halle hängt, kann diese Tatsache verbergen. „Willkommen in Polen. Wir haben für Sie einen kostenlosen Transport zu einem Ort ihrer Wahl vorbereitet. Vergessen Sie nicht, ein Foto vom Führerschein ihres Fahrers zu machen!“, verkündet die Inschrift auf Polnisch und Ukrainisch.
Den letzten Satz haben Nichtregierungsorganisationen zum Aufdruck empfohlen, da sie wissen, dass bereits Zuhälter an der polnischen Grenze auf die Flüchtlinge warten. „Der soziale Zusammenhalt, die Solidarität funktionieren. Trotzdem: Als Expertin für Menschenhandel finde ich die Tatsache, dass der Staat sich zurückzieht und kaum etwas organisiert, inakzeptabel“, kommentiert Anna Dabrowska, Vorsitzende der Hilfsorganisation Homo Faber die politischen Umstände. „Es gibt bereits erste Berichte über junge Mädchen, denen im Westen ein attraktiver Verdienst angeboten wurde.“
Ohne das Engagement der Polen wäre die Situation vor Ort wirklich tragisch. An den Bahnübergängen werden Züge nach Warschau bereitgestellt. An den Straßen herrscht weiterhin Gedränge. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes überqueren täglich rund 100.000 Menschen die ukrainisch-polnische Grenze. Ein großer Teil davon sind Fußgänger, vor allem Frauen mit Kindern. Sie können relativ leicht eine Mitfahrgelegenheit, eine Unterkunft in den Wohnungen von Freiwilligen oder, im schlimmsten Fall, in den örtlichen und von den Behörden eingerichteten Nachtquartieren finden.

Viel schwieriger haben es hingegen Männer. Die meisten von ihnen, die die Grenze überqueren, haben keine weiße Hautfarbe. Die einheimischen Ukrainer dürfen nicht fliehen, weil sie zur Armee einberufen wurden. Und wenn sie es doch tun, dann nur über die sogenannte grüne Grenze, also über Umwege in der Natur, und das auch nur gegen ein Bestechungsgeld. An den Grenzübergängen werden vor allem internationale Studenten gezählt, von denen laut Zahlen für das Jahr 2019 mehr als 80.000 in der Ukraine zum Studieren registriert worden waren. Ein Großteil von ihnen kommt aus Indien, Nigeria oder Marokko. Diejenigen, die sich legal in der Ukraine aufgehalten haben und bei Grenzübertritt ihre Pässe bei sich hatten, wurden zusammen mit den Ukrainern durchgelassen. Die übrigen – bisher nur einige Tausend – werden von den Grenzschützern in ein spezielles Zentrum gebracht, damit ihre Identität überprüft werden kann. Erst dann werden sie wieder freigelassen.
Charoun aus Indien
Vor der Wellblechhalle in Korczowa treffe ich außerdem Charoun aus Indien, der noch vor wenigen Tagen am Polytechnikum in Charkiw Elektrotechnik studierte. In fließendem Russisch erzählt er mir von den letzten Nächten, die er im Untergrund der dortigen Metro verbrachte. Er zeigt mir ein Video aus dem belagerten Sumy, wo seine Freunde gestrandet sind. Sie sind dort seit mehreren Tagen, ganz ohne Wasser – und essen Schnee.
Eine Frau läuft auf uns zu. Eine Freiwillige, die den ganzen Weg aus Westpolen, aus Posen, gekommen ist, um Charoun und seine beiden Freunde abzuholen, weil sie deren Hilferuf im Internet gefunden hat. „Lass Sie sie in Ruhe“, bittet sie mich. „Sie haben Charkiw überlebt. Es war eine harte Reise für sie. Und wissen Sie, was das schlimmste ist? Fast niemand will diese Studenten aufnehmen. Die Menschen spucken sie an und sagen, da sie in der Ukraine gelebt haben, sollten sie dort auch bleiben und kämpfen.“ Dann wirft sich die Frau Charoun um den Hals.

Möglicher Einmarsch der Russen
Seit dem ersten Tag des Krieges kursieren im polnischen Internet Videos, die bei der Evakuierung ukrainischer Städte aufgenommen wurden. Eines davon zeigt einen dunkelhäutigen Mann, der den Eingang eines Zuges mit einem Messer verteidigt. Die sozialen Medien wurden mit Falschmeldungen, etwa über Vergewaltigungen und Schlägereien, überschüttet, die angeblich in den Grenzregionen auf polnischer Seite stattgefunden haben. Ein Flüchtling hat laut eines Tweets des polnischen Vize-Innenministers Maciej Wasik ein Geschäft ausgeraubt. Verbreitet wird dies von polnischen Nationalisten, vor allem aber von kremlfreundlichen Troll-Accounts, von denen in letzter Zeit immer mehr existieren.
Die Polizei dementiert die Straftaten, aber die rechtsextremen Milizen und ihre Anhänger gehen in grenznahen Orten wie Przemysl auf die Straße. Die Hooligans kommunizieren über Telegram auf einem Kanal mit dem ironischen Titel „Engineers Przemysl“. Ja, es ist zu einer Gewalttat gekommen. Doch das Opfer war in einem Fall keine wehrlose Frau, sondern ein deutscher Helfer mit indischer Herkunft. Einen Tag später schätzt das polnische Institut für Social-Media-Forschung, dass das Ausmaß der Falschinformation in Polen um etwa 20.000 Prozent gestiegen sei. Die Polizei wird angewiesen, die selbsternannten Frauen-Verteidiger, also: die Hooligans, zu beruhigen. Einen Abend lang gleicht die 60.000-Einwohner-Stadt Przemysl der Kulisse eines Polizeifilms. Eine Verfolgungsjagd ist auf einer Brücke über den Fluss San zu sehen. Sirenen heulen auf. Verdeckte Ermittler rasen durch die Stadt.
In der Zwischenzeit stellt sich im Telegram-Kanal der Hooligans heraus, dass das besagte Geschäft nicht von einem Flüchtling, sondern von einem russischen Agenten ausgeraubt wurde. Das Innenministerium bestätigt dies nicht, aber das spielt auch keine Rolle mehr. „Die Russen haben gefälschte Konten auf Facebook eingerichtet? Und sie erfinden Geschichten und teilen sie dann?“, fragt einer der Hooligans ungläubig in dem Telegram-Kanal. „Weiß der Teufel, es könnte schon sein!“, antwortet ein anderer. Am Ende kommen die gewaltbereiten Gruppenteilnehmer zu dem Schluss, dass es besser sei, den Ukrainern jetzt doch zu helfen und sich auf einen möglichen Einmarsch der Russen vorzubereiten.
90 Prozent der Polen unterstützen die Aufnahme von Flüchtlingen
Ich spreche über all dies mit Fahrern, die sich an den Empfangs- und Verteilungsstellen für ihre angebotenen Mitfahrgelegenheiten vor allem „Frauen und Kinder“ als Mitreisende wünschen. Die Fahrer argumentieren mit rassistischen Sätzen und befürchten mit Blick auf die dunkelhäutigen Männer an der Grenze, dass es sich bei ihnen nicht um Studenten aus der Ukraine, sondern um Migranten aus dem Nahen Osten handelt, die über Belarus nach Polen eingereist sind.
Zur Erinnerung: Im Herbst 2021 öffnete Belarus an der polnischen Grenze eine Flüchtlingsroute für die ganze Welt. Die Menschen reisten mit Flugzeugen über Minsk nach Belarus ein und machten sich zu Fuß an die polnische Grenze. Damals vertrat die rechtspopulistische Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) einen eisernen Standpunkt: Kein Einlass für Migranten nach Polen. Nicht einmal diejenigen, die den Wunsch äußerten, Asyl zu beantragen, durften einreisen. Der Grenzschutz schickte die Menschen erbarmungslos in die verschneiten, sumpfigen Wälder in den Osten zurück. Und die rechtsnationalen Medien veröffentlichten aus Angst vor einer Destabilisierung des Landes ganz ähnliche Falschmeldungen, wie es die heutigen russischen Fake-News-Trolle tun. So wurde beispielsweise das Thema des sexuellen Missbrauchs von Tieren durch Flüchtlinge als Brennpunkt stark instrumentalisiert und ausgeschlachtet.
Die polnische Regierungspartei PiS nutzte die damalige Situation, um bei ihren Wählern eine flüchtlingsfeindliche Stimmung zu schüren. Doch als der Krieg in der Ukraine begann, änderte sich der Kurs der polnischen Regierung um 180 Grad. Der polnische Präsident Andrzej Duda erklärte seine volle Solidarität mit den Flüchtlingen, und zwar unabhängig von deren Zahl.
Dabei genoss er eine nie dagewesene öffentliche Unterstützung. Laut einer Umfrage des Instituts für Markt- und Sozialforschung, die einen Tag nach Ausbruch des Krieges durchgeführt wurde, befürworten mehr als 90 Prozent der polnischen Bürger die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. In einem politisch gespaltenen Polen ist dies eine eine schier unglaubliche Zahl. Ja, ein Wunder. Nicht einmal die Solidarność, die berühmte antikommunistische Bewegung der 1980er-Jahre, konnte vor dem Fall der Berliner Mauer auf eine solche Unterstützung in der Bevölkerung zählen.
Die Polen identifizieren sich mit dem Leid der Ukrainer
Dieser neue gesellschaftliche Zusammenhalt ist sogar in der traditionell anti-ukrainischen, ultrakonservativen Region Podkarpacie, also im Osten Polens, zu beobachten. Obwohl der polnisch-ukrainische Zwist in dieser Region bis in die österreichisch-ungarische Zeit zurückreicht, scheint er angesichts von Putins Bomben verschwunden zu sein. Sachspenden haben die kleinsten Gemeindehäuser in den hintersten Dörfern Polens gefüllt, hier und da wehen ukrainische Flaggen. Und die Grenzbeamten, die noch vor zwei Wochen bestenfalls einen verächtlichen Blick auf die Ukrainer warfen, wetteifern nun darum, wer mehr Kinder in seinem Bus befördern und in Sicherheit bringen kann. Nicht nur in Anwesenheit von Fernsehkameras, sondern ganz im Ernst.
„Putins militärische Aggression gegen die Ukraine hat das schwerste aller polnischen Traumata ausgelöst: das Gefühl, vom Westen im Stich gelassen zu werden angesichts eines Krieges, das Alleinsein im Kampf mit einem bösen Feind“, erklärt Olena Babakova, Expertin für Migration und polnisch-ukrainische Beziehungen, den plötzlichen Solidaritätsschub der Polen. Und ich möchte noch eine einfache Vermutung hinzufügen: Für die meisten Polen kam der Krieg noch nie so nah an ihr Zuhause heran.
Der überwältigende Wunsch in der Bevölkerung, dem Nachbarn zu helfen, ist jedoch eine der wenigen Ressourcen, die der polnischen Regierung aktuell zur Verfügung stehen, um die Krise zu meistern. Die polnische Variante der deutschen „Willkommenskultur“ wird nämlich nicht groß von staatlichen Institutionen gestützt. „Die Aufnahmestellen reichen nicht aus, die ganze Last ruht auf den Schultern der lokalen Behörden, den Nichtregierungsorganisationen und dem Heer von Freiwilligen“, so die Einschätzung von Anna Dabrowska. „Die Regierung brüstet sich mit Erfolgen, die allein unserer Arbeit zu verdanken sind.“ Als die Hilfsorganisation Homo Faber in Lublin ein Hilfetelefon für Migranten einrichtete, erschien deren Nummer sofort auf der Website der polnischen Regierung. Dabrowska beklagt, dass in den ersten Jahren der PiS-Regierung Hilfsorganisationen, die sich Flüchtlingsfragen widmeten, der Zugang zu Zuschüssen verwehrt wurde. Sie wurden mit staatlichen Kontrollen schikaniert. „Wie kann ich der Regierung jetzt noch vertrauen?“‘
Die Polen errichten spontan Flüchtlingsunterkünfte
Ein paar Tage später reise ich nach Przemysl, die besagte Stadt an der polnisch-ukrainischen Grenze im Südosten Polens. Die Ohnmacht des Staates wird dort auf einem Parkplatz in der Nähe eines ehemaligen Supermarkts sichtbar. Dort haben die Menschen ganz spontan ein Zentrum für Flüchtlinge errichtet. Hier ein Haufen unsortierter Kleidung, dort Inder aus Wien, die veganes Essen zubereiten. Und unter ihnen Adam, ein Mann, der schon viel erlebt hat. „Nur Gott wird mich richten“, verkündet eine der vielen Tätowierungen auf seinem Hals. Adam grillt Hähnchen für die Flüchtlinge, als ich ihn treffe. Er verteilt Zigaretten und zieht sich lautstark die Nase hoch. „Ich kann diese armen Kinder einfach nicht mit ansehen.“
Auf der Straße nach Medyka, dem größten Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine, gibt es wegen Bauarbeiten Pendelverkehr. Als die ersten Flüchtlinge an der Grenze ankommen, macht die Polizei die Grenze einfach dicht. Menschen in Autos, die aus ganz Europa anreisen, um ihre Familien abzuholen, werden zum ehemaligen Supermarkt geleitet. „Der Supermarkt ist nicht auf Google Maps zu finden. Es gab einfach keine bessere Idee als diesen Parkplatz hier, als Logistik- und Transferzentrum. Die Polizei und die Feuerwehr haben Busse organisiert, die ununterbrochen Flüchtlinge von der Grenze hierher gebracht haben und immer noch bringen. Na ja, so viel zur Rolle der Behörden,“ sagt ein Helfer.
Die Flüchtlinge steigen auf einem improvisierten Bahnsteig aus den Bussen aus, erhalten von den Freiwilligen eine Telefonkarte fürs Handy, ein paar warme Worte und Tipps, wo sie essen können. Fragen zum Papierkram werden nicht beantwortet, weil die Antworten niemand kennt. „Es gibt noch kein richtiges Gesetz für den Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge in Polen, aber keine Sorge, niemand wird sie hier rauswerfen“, sagt ein Helfer und will die ukrainischen Flüchtlinge auf diese Weise beruhigen. Die verlassenen Räume im Inneren des ehemaligen Supermarkts haben sich in einen kleinen Bahnhof verwandelt: An den Türen hängen Schilder mit der Aufschrift „Gdansk“, „Wroclaw“, „Berlin“ und „Spanien“. Wenn ein Flüchtling nach Madrid will, muss er sich nur vor das gewünschte Schild hinhocken. Vielleicht hat er Glück, wird von einem Freiwilligen angesprochen, der ihn zum gewünschten Ziel bringt.
„Der Bürgermeister von Przemysl war nur ein einziges Mal hier, und das in Anwesenheit von Kameras. Er hat eine neue Infrastruktur versprochen, im Endeffekt aber nur wenige Tage lang Toiletten zur Verfügung gestellt“, beklagt ein Freiwilliger. Und es gibt immer weniger von denen, die helfen. Denn in den sozialen Medien kursiert das Gerücht, dass die Freiwilligen hier nicht mehr gebraucht werden. Nach einem kurzen Krieg in den sozialen Medien kommt der Bürgermeister von Przemysl doch nochmal auf den Parkplatz und posiert erneut für Fotos. Er scheint vergessen zu haben, dass er die letzte Wahl dank seiner anti-ukrainischen Kampagne gewonnen hat.
Die meisten geflüchteten Ukrainer werden in Polen bleiben wollen
Ohnehin hat sich die Situation an der polnisch-ukrainischen Grenze stabilisiert. Das viel größere Problem ist all das, was in den Großstädten passiert. Der Hauptbahnhof von Warschau ist voll mit Menschen, die in Ecken schlafen. Es gibt immer noch viele hilfsbereite Bürger, die die Flüchtlinge unterstützen, aber es mangelt an Räumlichkeiten und staatlicher Verwaltung.
„Die zwischenmenschliche Solidarität funktioniert noch, aber in ein paar Tagen wird sie erlöschen“, schätzt Anna Dabrowska. „Wir erhalten bereits Anrufe wie: ‚Was soll ich jetzt tun? Ich werde diese Leute ja nicht ewig bei mir behalten können?‘ Besonders besorgt bin ich über unsere ukrainischen Freiwilligen. Mit der einen Hand versuchen sie zu helfen. Mit der anderen halten sie das Telefon, auf dem sie die schrecklichen Nachrichten von ihren Familien aus der Ukraine lesen. Dies ist eine doppelte Belastung für sie.“
Das polnische Parlament hat in dieser Woche über ein neues Gesetz für spezielle Hilfen für ukrainische Geflüchtete und ihren Sonderstatus entschieden, die Einzelheiten sind bereits bekannt. Flüchtlinge, die den Weg nach Polen gefunden haben, können in Polen mindestens 18 Monate lang ohne jeglichen bürokratischen Aufwand bleiben. Sowohl sie als auch die Menschen, die sie in ihren Häusern aufnehmen, können mit finanzieller Unterstützung durch den Staat rechnen. „Es ist schwierig, jetzt schon über konkrete Zahlen zu sprechen. Wir gehen aber davon aus, dass die ukrainischen Flüchtlinge, die die polnische Grenze überquert haben, in der Mehrzahl nicht weiterfliehen wollen“, schätzt Olena Babakova. „Eine große Rolle spielt dabei die Tatsache, dass circa 1 bis 1,5 Millionen Ukrainer bereits in Polen gelebt haben, die Nähe zu ihren verlassenen Häusern sowie die Solidarität der Polen mit der Ukraine.“

Die Gefahren für die neue Willkommenskultur
Leider kann ein wirksames System der Schulbetreuung, der Gesundheitsfürsorge oder des Wohnraums nicht per Gesetz geschaffen werden. Und der Wettbewerb um diese bereits knappen Güter und Dienstleistungen wird sich weiter verschärfen. Es mangelt auch an einer Integrationspolitik in Polen, insbesondere an einem Angebot an Polnischkursen. Darüber hinaus fällt die polnische Währung, der Zloty, rapide. Die Inflation beschleunigt sich und es droht eine Rezession. Ideale Bedingungen für ethnische Konflikte.
Die nächsten Phasen des russischen Informationskriegs werden darauf ausgerichtet sein, diese inneren Konflikte in Polen anzustacheln. In der Facebook-Gruppe meines Warschauer Stadtteils postete eine Person mit einem fiktiven Account einen Beitrag, in dem behauptet wurde, dass die neuen Ukrainer der Grund dafür seien, dass es in einem Lebensmittelgeschäft in der Warschauer Grzybowska-Straße keine Bananen mehr gäbe. Bisher haben die polnischen Facebook-Nutzer richtig reagiert, indem sie russische Idiomen in der Syntax der Beiträge nachgewiesen haben. Die meisten Reaktionen lauteten „Ha ha“ oder ähnlich. Doch es ist Vorsicht geboten: Kreml-Trolle sind nicht dumm. Mit der Zeit werden sie Geschichten erfinden, die mehr Aufregung stiften als ein Mangel an Bananen.
„Der plötzliche Höhenflug der polnisch-ukrainischen Freundschaft könnte auch dadurch abgebremst werden, dass Menschen in einem schlechteren geistigen Zustand als bisher nach Polen kommen“, so Babakova. Es wird sich dann nicht mehr um Menschen handeln, die vor dem Krieg geflohen sind, sondern um Menschen, die ihn erlebt haben. In einem solchen psychischen Zustand wird es schwierig sein, den glücklichen Helfern ewige Dankbarkeit zu zeigen, wie die Helfer es jetzt erwarten. Aus Deutschland und den Jahren 2015/2016 wissen wir bereits, dass solche Erlebnisse der neuen Willkommenskultur rasch die Flügel stutzen können.
Unsere Protagonistin Anastasiia Khilko arbeitete als Sängerin in Kiew. Jetzt ist sie in der Schweiz und sucht nach Arbeit in ihrem Berufsfeld. Wer helfen möchte, schreibt an: briefe@berliner-zeitung.de
Kaja Puto ist Journalistin. Sie arbeitet unter anderem für die linksliberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza und das Portal Krytyka Polityczna.
Der Text wurde von Tomasz Kurianowicz aus dem Polnischen übertragen.
