Es ist, als würden wir in einer Zeitschleife festhängen. Bald ist Weihnachten und das Virus tut alles, um uns das Fest zu vermiesen. Wie vor einem Jahr. Damals, am 13. Dezember, beschloss die Bundesregierung den harten Lockdown, die Kontaktbeschränkungen hatten Folgen für große Familientreffen. Und heute? Kann man sich angesichts der Infektionszahlen überhaupt auf Weihnachten freuen? Hier das Nein. Und jetzt das Ja.
Neulich kam Post aus Himmelpfort, 16798 Brandenburg, und die Sechsjährige war sich plötzlich nicht mehr ganz so sicher. Im vergangenen Jahr hatte sie erstmals, dann aber gleich ernsthaft die Existenz des „Weihnachtsmanns“ angezweifelt, als dieser an Heiligabend in der Tür stand und pandemiegerecht eine Maske trug. Wie von Zauberhand unter dem Bart fixiert. Mit sechs Jahren ist die Welt aber kein Märchen mehr. Und Eltern verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn sie einen offensichtlichen Kostümpfusch nicht erklären können, ohne weihnachtsmannmantelrot zu werden.
Dann also dieser Brief vom Weihnachtspostamt: „Liebes Kind“, „freue mich sehr, dass du dir Zeit genommen hast, mir einen so hübschen Wunschzettel zu schicken“, „meine fleißigen Engel helfen mir“, „manchmal naschen wir dabei Stollen oder Lebkuchen“, „damit dir die Zeit bis Heiligabend nicht zu lang wird, findest du in meinem Antwortbrief eine kleine Überraschung“, „bis bald und liebe Grüße, dein Weihnachtsmann“. Die Sechsjährige: „Hä, und wo ist die Überraschung?“ Wir Eltern: „Hm, noch ein Wunschzettel?“
„Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern“
Folgende Dinge muss man jetzt wissen. Erstens: Der Brief vom „Weihnachtsmann“ enthielt tatsächlich keine Überraschung. Zweitens: Er hatte niemals Post von uns bekommen. Drittens könnte man sich fragen: Sind die angeblich so fleißigen Engel aus Himmelpfort in der Excel-Tabelle verrutscht oder hat der „Weihnachtsmann“ sich ein Likörchen zu viel zum Stollen genehmigt? Jedenfalls viertens: Gibt es vielleicht irgendwo ein Kind, das auf eine Antwort wartet und mit jedem Adventstag trauriger wird, zu zweifeln beginnt am „Weihnachtsmann“. Und dadurch fünftens: Glaubt die Sechsjährige nun aber wirklich nicht mehr daran, dass ein bärtiger Typ im Rentenalter es logistisch auf die Kette kriegt, alle Kinder weltweit mit Geschenken zu versorgen. Sie freut sich trotzdem auf Weihnachten. Und wir freuen uns, weil sie sich freut. Und Kurt Tucholsky hat sowieso immer recht: „Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern.“
So, die Hälfte Ihrer maximalen Lesezeit ist rum, das heißt, die Pandemie lässt sich kaum noch länger verschweigen, leider. Denn wie im vergangenen Jahr droht Weihnachten wieder ein Fest zu werden, bei dem jede wie und warum auch immer praktizierende Mehrheitsgesellschaftsfamilie eine pragmatische Gleichung aufstellen muss, etwa so: einigermaßen frohe Weihnachten ist gleich Vorfreude plus Kinderglücksfaktor minus Geschenkepanik mal Lieferengpass und Likörchen in Himmelpfort minus Impfschlangenlänge, Reisestress, Rolf Zuckowski und Lockdownwahrscheinlichkeit mal Impfquote und Inzidenz plus R-Wert mal Boostereffekt durch die Anzahl der mutierten Spikeproteine bei der Variante Omikron. Am Ende der Gleichung, falls man dort überhaupt ankommt, müssen womöglich die Weihnachtseinladungen für Oma und Opa abgezogen werden. Dass gerade Enkelkinder wieder eine Gefahr für ihre Großeltern darstellen, ist zum Schreien und Dinge-an-die-Wand-Werfen.
Wie könnte eine Politik aussehen, die nicht immer nur auf Sicht fährt?
Man kann sich natürlich immer noch zu Recht darüber aufregen, dass wir hier in Deutschland die vierte Pandemiewelle reiten müssen, obwohl – andere Länder, andere Impfmoral – eine bessere Welt und eine endlich mal entspanntere Zeit möglich gewesen wären. Eine Weihnachtswelt, die nicht im Streit um die Impfpflicht untergeht und immer radikalere Ansichten hervorbringt. Eine Adventszeit, in der man in Ruhe hätte darüber nachdenken können, ob es eigentlich noch einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass Solidarität immer zuerst Schutz bedeutet und nicht Zwang, ob Freiheitsbegriffe Schnittmengen haben und wie eine Politik aussehen könnte, die nicht immer nur auf Sicht fährt, sondern, verdammt noch mal, das Fernlicht einschaltet.
Um die Sache mit dem „Weihnachtsmann“ noch aufzulösen: Die Sechsjährige hat ihren Glauben wiedergefunden. Sagt sie. Und will das Thema nicht vertiefen. Wir haben beschlossen, dass Opa diesmal wieder selbst den roten Mantel anziehen wird. Dazu den Bart. Aber keine Maske.
