Berlin/ London-Dass James Bond die Welt retten muss, ist nichts Neues. Jenseits der fiktiven Geheimdienst-Blase allerdings waren die Erwartungen an einen Bond-Film noch nie so hoch wie dieses Mal. „Keine Zeit zu sterben“ soll nichts weniger als beweisen, als dass Kino nach Corona noch funktioniert wie vorher und dass der Agent 007 als Figur weiterhin tragbar ist, ja den Zuschauern vielleicht sogar jenseits von eskapistischer Action etwas mitzugeben hat.
Viel wurde im Vorhinein gemutmaßt über die Nachfolge von Daniel Craig. Sollte sie schwarz sein oder gar eine Frau? Letzteres wurde jüngst offiziell dementiert, doch der Druck und vielleicht auch Drang zur Korrektur eines zweifellos sexistischen Helden war allen Filmen mit Craig in der Hauptrolle anzumerken und wird in seinem letzten Abenteuer konsequent vorangetrieben. Die Wünsche so mancher progressiver Fans greifen die Filmemacher gleich konkret auf. Denn tatsächlich gibt es in „Keine Zeit zu sterben“ schon einen Ersatz für 007, und der ist sowohl schwarz als auch eine Frau.
Lashana Lynch spielt Nomi, sie hat beim britischen Geheimdienst MI6 die Nummer des legendären Agenten übernommen, nachdem dieser sich am Ende von „Spectre“ mit seiner geliebten Madeleine Swann in den Ruhestand davongemacht hat. Als seine Hilfe wieder benötigt wird, stehen die beiden 007er sich plötzlich im Schlafzimmer gegenüber und Nomi gibt sich zu erkennen, indem sie ihre Perücke fallen lässt. „Ich hätte nicht gedacht, dass es das ist, was du als Erstes ausziehst“, kokettiert ein Bond, der damit noch mal auf die Vergangenheit seiner Figur verweist, sich in seinem Handeln aber dem entgegenstellt. „Die Welt hat sich weiterentwickelt, Mr. Bond“, antwortet Nomi. Der ist skeptisch, wünscht sich aber offensichtlich, dass sie recht behält.
Der alte Bond „kurierte“ Frauen von ihrer Homosexualität
Die Bond-Agenten waren immer hochstilisierte Spiegelbilder der akzeptieren Männerrollen ihrer Zeit, die Retrospektive hat mitunter Gruselkabinett-Charakter. Mit einem saftigen Klaps auf den Hintern und dem Befehl „Lass die Männer reden“ schickte Sean Connery in „Goldfinger“ seine Masseuse von dannen. Später drängt er sich gewaltsam einem anderen Bond-Girl mit dem bezeichnenden Namen Pussy Galore auf und „kuriert“ sie damit von ihrer Homosexualität. In „Thunderball“ zwingt er eine Krankenschwester erst zum Kuss und erpresst sie anschließend, entweder mit ihm zu schlafen oder andernfalls ihren Job zu verlieren. In Roger Moores Verkörperung war Bond von Mitte der Siebziger bis Mitte der Achtziger durchaus noch Sexist, schlug die Frauen aber immerhin weniger, sowohl auf den Hintern als auch ins Gesicht. Er nahm sich selbst lockerer als der erste Leinwand-Agent, diese Entwicklung drehte sich mit Pierce Brosnan bis zur Jahrtausendwende noch mal weiter, dessen Figur von Selbstironie gekennzeichnet war. Brosnans Bond hatte zudem eine Frau zum Chef, die ihn bei der ersten Begegnung gleich als „misogynen Dinosaurier“ bezeichnete, als ein „Relikt des Kalten Krieges“. In der Konsequenz wandte er sich als moderner Individualist zunehmend weniger den Interessen seines Vaterlandes als den eigenen zu.

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Daniel Craig setzte diesem Vergnügen ein Ende und stellte die Rollen, auch die der Geschlechter, infrage. Sein Bond ist getrieben, verletzt, verunsichert, hochsensibel und dabei doch ein Kämpfer. Statt aus der Distanz mit Qs Spielzeug zu hantieren, haut er sich die Knöchel blutig. Saß bei seinen Vorgängern nach dem Kampf jedes einzelne Haar noch akkurat, rinnt ihm der Schweiß durch das zerfurchte Gesicht und von geschüttelten Martinis will er nichts wissen. Der bulligste aller Bonds watet aber auch erotisch aus dem Meer, wie einst Ursula Andress als Honey Ryder, er verliebt sich, fragt Frauen nach ihrer Meinung und Geheimdienste nach ihrem Sinn, sucht globale Lösungen für globale Probleme.
Mindestens eine Milliarde muss eingespielt werden
Im 25. und mit knapp drei Stunden längsten Teil der Reihe muss er diesmal eine Bio-Superwaffe wiederfinden, die der MI6 selbst entwickelt hat und die nun in den Händen eines Verrückten gelandet ist. Lyutsifer Safin (Rami Malik) will damit nun einen Großteil der Menschheit auslöschen (Thanos aus dem Marvel-Universum lässt grüßen), indem er ein paar Auserwählte infiziert, die sein Gift dann ahnungslos weitergeben. Das mutet wie ein Corona-Verweis an, ist aber nur eine „glückliche“ Fügung. Denn der Film war bekanntlich schon vor der Pandemie fertig und wurde unter großen finanziellen Aufwendungen (Marketing, aktualisierte Produktplatzierung etc.) wieder und wieder verschoben. Laut Berichten muss der Film nun eine knappe Milliarde US-Dollar einspielen, damit sich die Verweigerung gegenüber den Streamingdiensten gelohnt hat. Zudem macht sich die gesamte Kinobranche den Titel des Films zu eigen und setzt große Erwartungen in „Keine Zeit zu sterben“. In den britischen Kinos soll er allein 13 Prozent des Jahresumsatzes einspielen.

Wenn jemand unter diesem Druck bestehen kann, dann ist es wohl Daniel Craigs Commander Bond. Wieder muss er mit gebrochenem Herzen in den Einsatz für seine Majestät und den Rest der Welt, denn er ist überzeugt, dass Madeleine ihn verraten hat. Die Zuschauer dürfen da allerdings von Anfang an skeptisch sein, denn in einer für die Reihe innovativen Eröffnung wird die „Bond-Woman“, wie die Schauspielerin Léa Seydoux ihre Rolle anstelle des für sie abwertend besetzten Begriffs „Girl“ genannt wissen will, als zweite Hauptfigur etabliert. Das gab es noch nie. Generell setzt sich der Trend fort, den Superagenten mit komplexen und mächtigen Frauenfiguren zu umgeben. Hübsches Kanonenfutter (30 von 50 Bondgirls sind tot) mit Namen wie Octopussy, Bambi oder Gräfin Lisl von Schlaf gehört lange der Vergangenheit an.
Wer wird der Post-Brexit-Bond?
Craigs 007 hat seinen Auftrag erfüllt. Er hat gekämpft bis zum Umfallen und immer wieder Hoffnung geschöpft, dass ein Mann wie er, der aus einer anderen Welt kommt, auch heute noch ein Vorbild sein kann. Dafür hat er sein Wertesystem umgekrempelt, Altlasten abgeworfen und seine Bedürfnisse hintenangestellt, die Zuschauer lieben ihn dafür. Die Zukunft gehört trotzdem anderen, und zwar nicht nur, weil Daniel Craig seinen Vertrag nicht verlängern wollte. Der Regisseur Cary Joji Fukunaga lässt am Ende keinen Zweifel daran, dass dieser Film als vielleicht generationenübergreifendstes Spektakel der Kinowelt das Ende einer Ära markiert, die über Schauspiel-Fragen hinausgeht. Und er tut das so überzeugend, dass „Keine Zeit zu sterben“ ein guter Punkt wäre, die Reihe zu beenden. Was bei den astronomischen Einspielergebnissen der vergangenen Teile natürlich nicht passieren wird.
Der nächste 007 dürfte es somit von allen am schwersten haben. Die alten Agenten bewegten sich in einer gesetzten Weltordnung, auch wenn das Vereinigte Königreich geopolitisch zunehmend an Bedeutung verlor. Als reiche weiße Dinosaurier mit Stil und und Sex-Appeal beherrschten sie diese Welt. Craigs Bond räumte hinter ihnen auf, er war in vielerlei Hinsicht ihr traumatisiertes Gegenstück. Er sanierte das Haus Bond, auch finanziell, warf Martini-Bar und rotierendes Bett auf den Sperrmüll, installierte Solarzellen auf dem Dach. Selbst darin wohnen kann er nun nicht mehr. Der Wert ist in der Post-Brexit- und Post-Pandemie-Zeit leicht gefallen, die Nachfrage aber weiterhin riesig. Wie es der nächste Mieter einrichten wird, stellt sich voraussichtlich im kommenden Jahr heraus, zu den Bewerbern gehören Regé-Jean Page und Henry Cavill. Doch so hart es für die neue Generation 007 auch werden könnte, so komplex die Anforderungen an sie sind: Ein üppiges Erbe wird den Start erleichtern.
James Bond 007 - Keine Zeit zu sterben, 163 Minuten, R: Cary Joji Fukunaga
