Berlin-Ich steige vom Fahrrad ab und trete in Hundekacke. Du mich auch, Berlin. Wenn du dir keine Mühe gibst, dann … ja, dann was? Ziehe ich nach Frankfurt!? Tja.
Ich habe es ja versucht ohne dich. Verbrachte den Sommer träumend in Kalifornien. Und ganz ehrlich, da kannst du nicht mithalten, Berlin. Schon klar, in ein paar Jahrzehnten werden dir vielleicht irgendwann auch mal Palmen wachsen. Aber am Meer wirst du niemals liegen, drei Stunden bis zur Ostsee, das zählt einfach nicht.
Und dass du auch immer so motzig bist! Lächle doch mal. Und lass dich nicht so gehen. In San Francisco sagen immer alle Danke, bevor sie aus dem Bus steigen, dafür nimmt der Busfahrer einen umsonst mit, wenn man kein passendes Kleingeld hat. In San Diego tragen sie Yogahosen, immer und überall, lassen sich die Brüste machen und die Lippen und färben sich die Haare oben blond und unten pink – das trauen sich höchstens ein paar Coolkids in deinem ach so hippen Neukölln.
Und in Los Angeles servieren sie den Latte mit Chaga-Mushrooms. Weißte wieder nicht, was das ist, ne? Berlin, du bist echt die provinziellste Metropole der Welt. Wie sie alle immer schimpfen über deinen Flughafen! Aber steigt mal in LAX aus, dann wisst ihr, was Chaos ist.
Ich war auch in New York. Der Stadt, die niemals schläft. Oder auch: der Stadt, an der niemand an der Ampel bei Rot stehen bleibt. Oder: der Stadt, in der die Subway dich verschlingt wie ein wildes, stinkendes Untier; wenn es dich wieder ausspuckt, fühlst du dich klebrig – und so lebendig.

Am 6./7. November 2021 im Blatt:
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https://berliner-zeitung.de/wochenendausgabe
Und sorry, Berlin, was du so „multikulti“ nennst. Multikulti ist nicht ein paar Türken, Araber, Polen, Vietnamesen und ein, zwei Russen. Multikulti ist 80 Kulturen auf einem Fleck, sind Chinesen in Chinatown, Japaner in Little Tokyo, Italiener in Little Italy, Russen in Brighton Beach, Juden in Bushwick, Schwarze in Harlem, Polen in Greenpoint, Little Korea, Little Australia, Little Guyana, Little Odessa.
Hör doch mal auf, um dich selbst zu kreisen!
Was ich sagen will: Du bist nicht der Nabel der Welt, Berlin. Es gibt Menschen da draußen, die wissen nicht mal, dass es dich gibt. Die Frau an der Rezeption im Ventura Beach RV Resort zum Beispiel. „Berlin?”, fragte sie, als sie meine Daten in ihren Computer tippte. „What is this? A city? Where?“ Kein Scherz. Sie verkaufte übrigens Trump-Käppis im Fünfer-Pack für 40 Dollar. Woanders haben sie echte Probleme, Berlin. Also hör doch mal auf, immer nur um dich selbst zu kreisen!
Jetzt bin ich wieder da. Und zur Begrüßung klatschst du mir deinen November ins Gesicht wie einen nassen Waschlappen. Dazu Magen-Darm-Virus. Platter Reifen. Baustelle vor der Tür. Sturm „Hendrik“ oder war es „Ignatz“? Corona-Ausbruch in der Kita. Wasserrohrbruch auf der Frankfurter Allee. Hundekacke am Schuh. Echt jetzt?
Du denkst, es reicht, nur einmal die Herbstsonne über dem Tempelhofer Feld strahlen zu lassen, Drachen vor blauem Himmel und ein paar tanzende Rollschuhfahrer auf der Landebahn; mir nur einen Whiskey Sour über den Tresen zu schieben und den Aschenbecher danebenzustellen; mich einzuladen in ein altes Haus in Prenzlauer Berg, wo der Hinterhof noch so grau ist wie damals, als wir uns kennenlernten, wo der Hausflur nach Kohlsuppe und Kohlen riecht; du denkst also, das reicht, und dann hast du mich sofort wieder erwischt. Und leider hast du recht. Ich komme nicht von dir los, Berlin.
Mein Problem ist: Wenn jemand mich fragt, warum ich in Berlin lebe, fällt mir keine Antwort ein. Ganz ehrlich, ich verstehe die Frage nicht. Wie kann man nicht hier leben wollen? Es gibt zwei Sorten von Menschen: Berliner und Nicht-Berliner. Anderswo ist es immer schöner. Aber wenn du nicht in Berlin lebst, dann lebst du eben nicht in Berlin.
Dies ist einer von sechs Liebesbriefen, die die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende verfasst und zusammengestellt hat. Damit wollen wir unserer Hassliebe für Berlin Ausdruck verleihen. Und erklären, dass nur Berliner diese Stadt verabscheuen dürfen. Alle Briefe finden Sie in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung vom 6./7. November 2021.



