Berlin-Ein Auto fährt an den Straßenrand heran, kommt direkt am Fahrradweg zum Stehen, die Beifahrerin öffnet ihre Tür, ohne nach hinten zu schauen. Ein Fahrradfahrer fährt beinahe in diese Tür hinein – ein Beinaheunfall, wie er dauernd in Berlin vorkommt. Die Frau schließt die Tür, schaut in das entgeisterte Gesicht des Fahrradfahrers und sagt: „Heul doch!“
Es stimmt schon, Berlin ist manchmal wie der Schulhof, auf dem alle miteinander in Streit geraten sind. Zwischen Kreuzberg und Charlottenburg, Prenzlauer Berg und seit Neuestem Friedenau könnten die Unterschiede nicht größer sein, und trotzdem gibt es da etwas Verbindendes, etwas, auf das sich sogar Bewohner von Lofts in Mitte einigen können. Am besten lässt sich diese lässige Gemeinsamkeit wohl auf diesen Satz zurückführen: „Mach mal nicht so’n Wind hier.“

Am 6./7. November 2021 im Blatt:
Berlin-Bashing aus der Ferne? Geht gar nicht! Fünf Liebesbriefe an eine wunderbare Stadt, die nur Berliner hassen dürfen
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https://berliner-zeitung.de/wochenendausgabe
Umso erstaunlicher, dass in dieser Woche ausgerechnet ein Frankfurter Autor sich derart über Berlin echauffiert, dass man sich verwundert an den letzten Besuch in Frankfurt erinnert und fragt, ob er von der gleichen Stadt spricht. Ausgerechnet eine Fahrt mit dem ICE von Berlin nach Frankfurt zieht er heran als ultimativen Beweis für Heimatgefühl. Ist der Mann einmal am Frankfurter Hauptbahnhof ausgestiegen? Hat er sich nicht sofort in eine Stadt gewünscht, die sich wenigstens nicht so wichtig nimmt, wenn DAS der Bahnhofvorplatz ist?
Bullerbü und Partyhauptstadt
Es ist schon fast ein Ritual, wie mit höchster Regelmäßigkeit ein westdeutsches Blatt versucht, Berlin aus der Ferne wirklich ganz furchtbar zu finden. Die Zeit schrieb schon 2009 vom „Bionade Biedermeier“ in Prenzlauer Berg, vom „Bullerbü der Besseraussehenden“ und manifestierte für immer das Bild der reichen Mutter mit Bugaboo-Kinderwagen in der deutschen Öffentlichkeit. Erst vor einem Jahr versuchte die gleiche Zeitung mit vier Autoren in einem Titeltext, das Bild der Partyhauptstadt zu erneuern – absurderweise mitten in der Pandemie, als kein Club offen war – und scheiterte schon daran, den Unterschied zwischen Heizpilzen (verboten) und Heizstrahlern (erlaubt) zu verstehen. Das war seit Wochen Thema in Berliner Lokalteilen, die man in Hamburg offenbar nicht lesen muss.
Die Süddeutsche tut Ähnliches regelmäßig, allerdings meist mit einer derart großen Geste, dass diese Texte im Grunde immer ein großer Spaß sind und mindestens ein verstecktes Kompliment an die Hauptstadt enthalten. Mit Verena Mayer hat die Zeitung eine Korrespondentin in Berlin, die das Staunen nie verlernt hat und trotz ihres rollenden Rs längst eine Einheimische ist. Und selbst wenn ihr Kollege Hilmar Klute wie neulich wütend auf Berlin feuert wegen des offensichtlichen Schlendrians in den Behörden, dann liest man jede Zeile wahnsinnig gern und versteht ihn und ist sich sicher, er würde lachen, wenn ihm nach dem Lesen jemand freundlich zuruft: Heul doch.
Die Meisterin im Berlin-Porträt ist sicherlich Johanna Adorjan, die in der Süddeutschen Zeitung im Jahr 2018 das wichtige Wort „Rasterfassaden“ einführte in das Sprechen und Schreiben über Berlin. In ihrer bemerkenswerten Seite 3 über die moderne Architektur in Mitte beschrieb sie eine bauliche Besonderheit, diese schmalen Fenster an allen neuen Gebäuden, die immer etwas von Schießscharten haben: länglich, hoch, feindselig. Vor allem: eintönig. Wer diesen Text gelesen hat, kann nie wieder durch Mitte laufen, ohne an die psychischen Folgen von langweiligen Fassaden zu denken und ganz traurig zu werden.
Porträt in der FAZ
Erst zwei Jahre zuvor hatte sie schon in der FAZ vorgelegt und ein Porträt von ihrem Stadtteil Berlin-Mitte geschrieben, das noch in zehn Jahren Gültigkeit haben wird. Die schönste Art, über Berlin zu schreiben, ist schlicht, das „hilarious“ in jeder Straße zu entdecken: den „englisch sprechenden Kaffee-Verkäufer, dessen Frisur man sich merken muss“ oder die „Touristen mit diesen unerklärlichen Fjällräven-Rucksäcken, die unendlich langsam exakt vor einem auf dem Bürgersteig laufen, weil sie gerade auf ihrer Geocache-App was nicht finden“. Adorjans Texte sind ein großer Spaß.
Das aktuelle Berlin-Porträt von Simon Strauß in der FAZ allerdings reicht da nicht heran. Auch nach dreimaligem Lesen bleibt kein Bild hängen, keines ist so, dass man es noch einmal wiederholen will. Wer Berlin nicht verstehen will, für den ist vielleicht wirklich der Zug nach Frankfurt die beste Alternative. Oder Sie lesen eben unsere Liebesbriefe an Berlin in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung vom 6./7. November 2021.
Dies ist der Einführungstext zu sechs anderen Liebesbriefen, die die Redaktion der Berliner Zeitung am Wochenende verfasst und zusammengestellt hat. Damit wollen wir unserer Hassliebe für Berlin Ausdruck verleihen. Und erklären, dass nur Berliner diese Stadt verabscheuen dürfen. Alle Briefe finden Sie in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung vom 6./7. November 2021.


