Berlin-Aller guten Dinge sind drei. Ob der Bahnvorstand so dachte, als er die Verhandlungen mit der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) vergangene Woche ohne überzeugendes Gegenangebot eskalieren ließ? Auch in der erneuten Verhandlungsrunde beharrten die Bosse der Bahn auf einer Gehaltsnullrunde für das laufende Jahr, gleichzeitig auf der Kürzung der Betriebsrenten der Lokführer und Lokführerinnen. Von mickrigen 150 Euro wollen sie den Bahnangestellten noch 50 Euro wegschnappen. Dabei zeigte erst im Herbst vergangenen Jahres ein Papier aus dem Bundesverkehrsministerium, wie der Bahnvorstand mit der eigenen Altersvorsorge verfährt: 20.000 Euro monatliche Zahlungen bekommen ehemalige Vorstandsmitglieder im Schnitt. Das kann die Bahnangestellten am unteren Ende der Gehaltsleiter schon mal ungehalten werden lassen. Jetzt ziehen die Lokführer und Lokführerinnen um den GDL-Boss Claus Weselsky also in den mittlerweile dritten Arbeitskampf, den längsten ihrer Geschichte. Für fünf Tage stehen die Züge seit Donnerstagnacht im Personenverkehr still, im Güterverkehr rollte schon einen Tag vorher nichts mehr.
Wie verzweifelt die Bahn im von ihr selbst heraufbeschworenen Machtspiel ist, zeigt auch die Entscheidung, gegen den Streik (und somit die Gewerkschaft) nun gerichtlich vorzugehen. Am Donnerstagmorgen hat der milliardenschwere Konzern beim Arbeitsgericht in Frankfurt am Main einen Antrag auf einstweilige Verfügung gestellt. Der Streik soll somit also gerichtlich verhindert werden, dem GDL-Chef Claus Weselsky gehe es nicht mehr um arbeitspolitische Fragen, er wolle mit dem Streik vor allem politischen und rechtlichen Druck aufbauen, heißt es bei der Bahn. Dabei ist die kollektive Arbeitsniederlegung ein Grundrecht, die Chefetage der Bahn zeigt ein fragwürdiges Demokratieverständnis, wenn sie rechtliche Schritte einleitet. Hätte diese Zeit nicht in ein besseres Angebot für unzufriedene Angestellte gesteckt werden sollen?

Am 4./5. September 2021 im Blatt:
Die Wende: Der 11. September 2001 und sein Dominoeffekt für die ganze Welt. Ein 9/11-Spezial
Vergessen SPD und Grüne die Berliner Außenbezirke? Wir haben uns umgehört
War der Afghanistan-Einsatz sinnlos? Peter Tauber und Gregor Gysi streiten
Christiane Arp, Odély Teboul, Isabel Vollrath: Die Fashion Week ist weiblich!
Heinz Strunk im Interview: „Toxische Männlichkeit habe ich nicht mehr nötig“
„Ich dachte, ich sterbe jetzt“: Alexander Osang und Anja Reich über ihr 9/11 und ihren neuen Podcast
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Ganz falsch liegt die Bahn mit dieser Einschätzung dennoch nicht, beim aktuellen Arbeitskampf geht es eben nicht nur um bessere Löhne und eine sichere Altersvorsorge, durch die andauernden Auseinandersetzungen zwischen Bahn und GDL zeigen sich auch die Tücken im Tarifeinheitsgesetz (TEG) von 2015. Mit dem wollte die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) eigentlich für Ruhe beim ständig bestreikten Bundesbetrieb sorgen, herausgekommen ist ein Kampf zwischen David und Goliath.
Laut TEG hat nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft eines Betriebs Gültigkeit – ein Gesetz wie gemacht für die konkurrierende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die das Gesetz vor sechs Jahren fast besessen beklatschte. Im Großbetrieb Deutsche Bahn sind sie die größte Interessenvertretung, in vielen der über 70 Kleinbetriebe der Bahn liefern sich EVG und GDL wohl aber ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Eine Ausnahmeregelung auf Anwendung des Tarifeinheitsgesetzes bei der Bahn war im Dezember ausgelaufen, der Kampf der beiden Gewerkschaften konnte so beginnen.
Die anscheinend harmoniesüchtige EVG hat Nullrunden, Kürzungen der Betriebsrenten und die Nicht-Auszahlung einer Corona-Prämie bereits im vergangenen Jahr für ihre Mitglieder im neuen Tarifvertrag kampflos abgenickt. Die GDL lehnt diese Angebote ab, arbeitet stetig daran, neue Mitglieder zu gewinnen – um so die dominierende Gewerkschaft im Bahnkonzern zu werden.
Zur Wahrheit gehört auch, dass eben auch die Bahn politischen Druck aufbauen möchte und die GDL mit einem möglichen Gerichtsurteil weiter demütigen und ihrem öffentlichen Ansehen schaden will. Schon jetzt ist der Kanon in Politik und Medien relativ einheitlich, ist der Schwarze Peter dem obersten Gewerkschaftler und CDU-Mitglied Weselsky zugeschoben worden. Er lähme die Republik, gefährde die Gesundheit der Reisenden, spiele Machtkämpfe auf dem Rücken der Bahnkunden und -kundinnen aus. Dabei ist es gerade der Bahn ein Anliegen, der konfliktscheuen EVG zu alter Größe zu verhelfen und die GDL weiter kleinzuhalten. Wächst die GDL, könnte eben sie bald Hauptverhandlungspartner laut TEG werden. Eine ungemütliche Aussicht für den Bahn-Chef Richard Lutz.
Es ist also nicht nur der GDL-Chef Claus Weselsky, der die Geduld der Reisenden in diesen Tagen strapaziert, sondern auch der Bahnvorstand. Es ist diese Partei, die im laufenden Arbeitskampf – anders als die GDL – kaum ernsthaft einlenkte und unbeweglich ihre Konzernmacht demonstrieren lässt. Eine peinliche Demontage für diesen scheinbar übermächtigen Riesenbetrieb, wenn die Gegenseite nicht demütig einknickt, sondern so erst zu wahrer Größe findet.
Der Staatskonzern bleibt stur bei der Laufzeit der Lohnerhöhung, ginge es nach ihm, soll die GDL durch die Inflation also einem Lohnverlust zustimmen. Eine bittere Erkenntnis für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer, hat der Aufsichtsrat der Bahn doch erst im März eine Lohnerhöhung für den eigenen Vorstand um 10 Prozent durchgewunken. Geld scheint also da zu sein. Verständlich, dass die Lokführerinnen und Lokführer da wütend werden. In der Urabstimmung vergangene Woche zeigten sich 95 Prozent der Mitglieder kämpferisch, votierten für eine erneute Arbeitsniederlegung.
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer um ihren Chef Claus Weselsky zeigt mutig, dass konsequente Interessenvertretung in Deutschland nicht nur für die oberen Zehntausend funktionieren muss. Trotz immer schärfer werdender Rhetorik und Personalisierung des Arbeitskampfs und trotz Medien, die nur noch als PR-Aushängeschild von Bahnvorständen zu lesen sind, bleibt sie standhaft und geht geschlossen in Streik Nummer drei. Ein Gegner, der das Grundrecht auf Streik durch fadenscheinige Begründungen aussetzen will, kann das Streikkollektiv ja eigentlich nur motivieren.


