Berlin-Wenn jemand in Deutschland über alle Parteigrenzen hinweg mehr als unbeliebt ist, ist das nicht immer, aber zumindest oft ein Indikator dafür, dass er etwas richtig macht. Claus Weselsky ist so ein Fall. Der Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bewegt die Kommentarspalten des Landes. Die Chattering Classes (zu denen freilich auch der Autor dieser Zeilen gehört) empören sich mehrheitlich über ihn. Der Tenor lautet etwa so: „Der irre Egomane Weselsky nimmt den ohnehin schon durch Corona und Starkregen gebeutelten Fahrgast in Geiselhaft. Ein Streik ausgerechnet jetzt ist nun wirklich unverantwortlich!“
Das ist aus vielen Gründen bemerkenswert. Vor allem schon deshalb, weil für den unbedarften Bahnreisenden Generalstreik und Normalbetrieb ohnehin kaum voneinander zu unterscheiden sind. Woher also die allgemeine Aufregung? Das fängt schon mit seiner Person an. Weselsky wurde 1959 in Dresden geboren, er gilt damit fast als ein alter weißer Mann – um in der öffentlichen Arena zu bestehen, hat Weselsky damit denkbar schlechte Voraussetzungen. Dass er stark sächselt, erweist sich auch nicht unbedingt als hilfreich. Überdies liegt ihm das Querulantentum im Blut: Weil er nie Mitglied der SED wurde, war es ihm trotz guter Schulnoten nie vergönnt, in der Deutschen Reichsbahn richtig Karriere zu machen. Er durfte nur Rangierloks fahren. Aus der Geschichte hat er überdies auch nichts gelernt: Selbst heute tut sich Weselsky schwer damit, sich anzupassen, mit seinem Konfrontationskurs im Bahnstreik macht er sich seit Jahren eigentlich nur Feinde.

Am 14./15. August 2021 im Blatt:
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Dabei ist er als Lokführer-Chef eigentlich in einer komfortablen Position. Derzeit fehlen der Deutschen Bahn nach eigenen Angaben über 700 Lokführer, die GDL schätzt den Personalbedarf sogar noch höher ein: Laut Weselsky bleiben über 1500 Planstellen für Lokführer unbesetzt. Insgesamt beschäftigt die Deutsche Bahn derzeit über 18.000 Lokführer, wenn künftig mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene verlegt werden soll, muss deren Anzahl auf absehbare Zahl deutlich steigen. Die Ausbildung zum Lokführer dauert drei Jahre, obwohl sich die Bahn um Quereinsteiger bemüht, brechen viele von ihnen ihre Ausbildung ab. Die demografische Entwicklung stellt die Bahn dabei zusätzlich vor besondere Herausforderungen. Derzeit liegt das Durchschnittsalter der Belegschaft im Schienenverkehr bei 46 Jahren, bei den Lokführern liegt das Alter noch höher. Das heißt konkret: In den kommenden Jahren gehen viele Lokführer in Rente, neue Mitarbeiter werden händeringend gesucht. Die Deutsche Bahn ist außerdem im deutschen Schienenverkehr längst nicht mehr allein, die Anzahl der Konkurrenzunternehmen wächst beständig.
Selbst auf der umsatzstarken Langstrecke im Personenverkehr bekommt die Deutsche Bahn mit Flixtrain inzwischen Konkurrenz. Dass das Personal der Deutschen Bahn mit attraktiven Gehältern von der Konkurrenz abgeworben wird, ist keine Seltenheit mehr. Sowohl im Gütertransport als auch im Personenverkehr wurde das Monopol der Deutschen Bahn gebrochen. Der einstige Champion der Deutschland AG kämpft mit Personalnot. Das hat konkrete Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen: Laut Tarifvertrag muss ein Lokführer zwar nur 38 Stunden pro Woche arbeiten, aber effektiv arbeiten Lokführer über 50 Stunden pro Woche. Die Überstunden summieren sich bei vielen Lokführern bis in den mittleren dreistelligen Bereich. Wer den aktuellen Arbeitskampf der GDL deshalb als bloßes Ringen um ein paar Prozent mehr Lohn interpretiert, geht fehl.
Bei näherer Betrachtung sind allerdings auch die Lohnforderungen sehr moderat: Die GDL fordert eine Lohnerhöhung in Höhe von insgesamt 3,2 Prozent verteilt über 28 Monate. Derzeit liegt die Inflationsrate bei 3,8 Prozent – Reallohnverluste sind bei den Lokführern damit bereits eingepreist. Dabei bieten die Lokführer eine derzeit stark nachgefragte Dienstleistung. Die von der Deutschen Bahn versprochene Jobgarantie läuft ins Leere, denn die Bahn kann es sich gar nicht leisten, auf Arbeitnehmer im Schienenverkehr zu verzichten.
In der Marktwirtschaft bestimmen unter normalen Umständen Angebot und Nachfrage den Preis. Ein ehernes Gesetz. Doch wenn Weselsky mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen fordert, werden von den Kritikern alle Mechanismen der Marktwirtschaft vergessen, man greift in die Grabbelkiste des öffentlichen Diskurses: die Moral. Der Bahnstreik gilt als unanständig. Vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) stammt das Bonmot: „Moral ist in der Politik selbstverständlich keine Kategorie, außer wir wollen jemandem schaden“ – recht hat er! Schon seit Jahren wird Weselsky vorgeworfen, seine Streikankündigungen kämen zur Unzeit, und regelmäßig wird dabei an die staatsbürgerliche Verantwortung der Lokführer appelliert.
Dieses Mal wirken die Argumente gegen den Streik im Lichte der Überschwemmungen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz und der aktuellen Verluste der Bahn auf den ersten Blick nachvollziehbar, tatsächlich zieht sich der Streit jedoch schon über Monate hin. Trotz Corona verzichtete die Bahn auch nicht auf die Arbeitsleistung ihrer Lokomotivführer, im Gegenteil: Die Züge fuhren einfach weiter. Schon beim großen Bahnstreik 2014 forderte der Berliner Bundestagsabgeordnete Frank Steffel (CDU) die Berliner S-Bahn-Fahrer offen zum Streikbrechen auf, angeblich weil der Streik das Andenken an das 25. Jubiläum des Mauerfalls stören würde. Der Gedenktag dürfe nicht „durch den Streik einiger weniger chaotisiert werden“ hieß es damals – irgendwas ist immer, einen richtigen Zeitpunkt für einen Streik gibt es nie.
Dieses Mal handelt es sich überdies um einen Streik mit Ansage. Seitdem das Tarifeinheitsgesetz verabschiedet wurde, um die Macht der Spartengesellschaften einzuschränken, haben diese allen Grund, um ihr Überleben zu kämpfen. Das von der damaligen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles – ausgerechnet einer Sozialdemokratin – abgesegnete Gesetz besagt, dass nur der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft in einem Betrieb zur Anwendung kommen soll. Dadurch wurden die Gewerkschaften in ein Konkurrenzverhältnis zueinander gesetzt: Wer die meisten Mitglieder hat, bestimmt den Kurs der Arbeitnehmerschaft.
Es ist naiv zu glauben, die kleinen Gewerkschaften würden sich einfach nur zur Ruhe setzen und sich mit der eigenen Bedeutungslosigkeit abfinden. Mittlerweile kämpft Weselsky mit offenem Visier um neue Mitglieder, und das mit zunehmendem Erfolg, denn die konkurrierende Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) gilt traditionell als handzahm, die Interessenvertreter der Arbeitnehmerschaft sind in der Gewerkschaft eng mit dem Bahnkonzern verwoben.
Auf ihrer Internetseite rühmt sich die EVG derzeit damit, dass sie im Tarifstreit gegenüber der GDL obsiegt – ein seltsamer Erfolg für eine Gewerkschaft, die sich vordergründig den Interessen ihrer Mitglieder verschrieben hat. Schon bei der EVG-Vorgängerorganisation Transnet wechselte der langjährige Gewerkschaftsvorsitzende Norbert Hansen kurzerhand als Vorstandsmitglied für Personal in den Vorstand der Deutschen Bahn AG. Der Lohn: eine Abfindung in Höhe von 2,25 Millionen Euro und eine Bahncard 100 auf Lebenszeit – auch eine Form der Sozialpartnerschaft. Weselskys Kampf wirkt auf viele Beobachter vor allem deshalb so anstößig, weil er offenbart, dass es auch in der heutigen Gesellschaft noch handfeste Interessenswidersprüche gibt. Eigentlich hatte man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass kleinliche Konflikte über Lohn und Brot in Zeiten von Klimawandel und Digitalisierung der Vergangenheit angehören sollten.
Selbst im Wahlprogramm der Arbeiterpartei SPD spielt die Forderung nach besseren Lebensverhältnissen und Wohlstand für die Breite der Bevölkerung allenfalls eine untergeordnete Rolle – eine Gewerkschaft, die mehr Netto vom Brutto fordert, stört da nur den Betriebsablauf. Insofern verwundert es nicht, dass das liberale Justemilieu äußerst zerknirscht auf eine Figur wie Weselsky reagiert, weil dieser sich offen traut, für seine Interessen einzutreten.
Die Ablehnung, die Weselsky entgegenschlägt, ist der Gradmesser seines Erfolges. „They hate you if you’re clever and they despise a fool“, sang schon John Lennon. Dass ausgerechnet ein CDU-Mitglied mit grauem Sakko und Schnauzbart zu Deutschlands letztem Arbeiterführer avanciert, hätte sich Lennon allerdings wohl kaum träumen lassen.
