Interview mit Lemony Snicket

Kinderbuch-Autor nach #MeToo-Vorwurf: „Ich wusste, dass mir das passieren würde“

Millionen Kinder haben Lemony Snickets Bücher gelesen. 2018 wurde dem Autor vorgeworfen, Frauen belästigt zu haben. Ein Gespräch über Cancel Culture und Humor.

Der Autor Daniel Handler aka Lemony Snicket
Der Autor Daniel Handler aka Lemony SnicketMeredith Heuer

Berlin-Daniel Handler aka Lemony Snicket reist nicht gern. Er mag keine Flughäfen, was eher ungünstig ist, wenn man einer der erfolgreichsten Kinderbuchautoren der USA ist und wenn ein neues Buch normalerweise bedeutet, dass man auf Lesereise durchs ganze Land geht. Aber es ist 2021, und wieder normal ist die Welt noch lange nicht. Deshalb sitzt Daniel Handler, 51, jetzt in einem Café in Cole Valley, einem kleinen Viertel in San Francisco unweit des berühmten Haight Ashbury, wo einst Janis Joplin und The Grateful Dead lebten.

Handler kommt oft zum Arbeiten her, sein Zuhause, eine alte viktorianische Villa, liegt gleich um die Ecke. Seine Bücher schreibt er in Cafés und Bibliotheken, vor ihm auf dem Tisch liegt das Manuskript für ein Theaterstück, das er jetzt zur Seite schiebt, um über sein neues Buch zu sprechen. Er hat es unter dem Pseudonym veröffentlicht, mit dem er vor über 20 Jahren berühmt wurde: Lemony Snicket.

„Poison for Breakfast“ heißt es, ein schmales Büchlein, das damit beginnt, dass Snicket morgens einen Zettel findet, auf dem steht, er habe gerade Gift gefrühstückt. Während Snicket versucht herauszufinden, was dahintersteckt, denkt er über den Tod nach, aber mehr noch über das Leben, die Bücher, die Musik, die Begegnungen, die es so verwirrend und gleichzeitig einzigartig machen.

„Poison for Breakfast“ passt perfekt in diese Zeit der Pandemie, in der es viel Raum gab, über das wirklich Wichtige nachzudenken – dabei hat Handler es schon 2019 geschrieben, als Corona nicht viel mehr war als der Name des Viertels neben Cole Valley. Handler denkt auch in normalen Zeiten gerne über den Tod nach, es ist das, was ihn so erfolgreich gemacht hat.

„Poison for Breakfast“ ist auch das erste Buch, das Handler geschrieben hat, nachdem ihm vor drei Jahren mehrere Frauen öffentlich vorgeworfen haben, sie mit sexuell anstößigen Kommentaren belästigt zu haben. Es war so etwas wie der MeToo-Moment der Kinderliteraturszene in den USA. 2014 hatte Handler schon mal für einen Aufschrei gesorgt, als er in einer Rede bei der Verleihung des National Book Awards einen Witz machte, den viele als rassistisch empfanden. Für beides hat Handler sich entschuldigt.

Was denken Sie heute über diese Vorwürfe?

Ich glaube, es gibt heute ein größeres Verständnis dafür, dass hinter solchen Vorwürfen oft eine Kultur der Wut steckt, die sich gegen Menschen richtet, die wie ich öffentlich sichtbar sind. Ich halte mich nicht für einen Provokateur, ich versuche nicht, Menschen zu verletzen. Herauszufinden, dass sich Menschen von mir verletzt fühlen, war nicht schön. Andererseits erscheinen mir manche auch darauf aus, sich verletzt zu fühlen.

Haben diese Vorwürfe dazu geführt, dass Sie mehr darüber nachdenken, was Sie sagen und wie es verstanden werden könnte?

Beim Schreiben nicht, nein. Aber ich meide gewisse Situationen. Früher bin ich auf einem Literaturfestival gerne mit Leuten zum Mittagessen gegangen, da denke ich jetzt zweimal nach. Da sind viele, die ich kenne, vorsichtiger geworden. Freunden von mir, die an Universitäten unterrichten, ist das auch aufgefallen. Früher haben sie ihre Studenten zu Partys bei sich zu Hause eingeladen, so was machen sie nicht mehr.

Sehen Sie rückblickend auch etwas Gutes an der Situation?

Ich versuche, auf Menschen zu hören, die ich schätze, da gab es gute Gespräche. Ansonsten war es einfach ziemlich mies. Aber ich wusste, dass mir das irgendwann passieren würde, es war nur eine Frage der Zeit. Eine Freundin von mir, auch eine Schriftstellerin, war in einer ähnlichen Situation, vor mir, wir haben damals telefoniert und ich habe gesagt: Pass auf, es ist alles so komplex, die Leute verstehen es nur nicht, es wird alles wieder gut. Während ich das sagte, fiel mir auf, wie oft ich das schon gesagt habe, und da wurde mir klar: Es wird mir auch passieren. Ich weiß nur nicht, wann und weswegen.

Wegen Ihrer Art von Humor?

Dass meine Bücher voller schwarzem Humor sind, weil meine Persönlichkeit voller schwarzem Humor ist, hat sicher nicht geholfen. Aber ich glaube, es geht mehr um Sichtbarkeit. Mittlerweile gibt es doch kaum noch jemanden, der eine gewisse Sichtbarkeit hat und nicht irgendeine Version dessen erlebt hat, was ich erlebt habe, zumindest in den USA. Wenn solche Vorwürfe durch das Internet der ganzen Welt präsentiert werden können und jeder eine Meinung dazu haben kann, dann fängt es an, verrückt zu werden. Und wenn es Existenzen bedroht, finde ich es furchteinflößend. Es ist auch schwer, sich zu verteidigen. Du kannst als Prominenter nicht sagen: Oh, die Person ist verrückt, ich habe das ganz anders erlebt.

Cancel Culture ist so ein aufgeladener Begriff geworden …

… ja, er bedeutet nichts mehr.

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Der Autor Daniel Handler
Daniel Handler
wurde 1970 in San Francisco geboren. Seinen ersten Roman schrieb er Mitte der 90er-Jahre. Laut Handler wurde er 37-mal abgelehnt, bevor er einen Verlag fand, der das Buch veröffentlichte. Er schrieb von 1999 bis 2006 unter dem Pseudonym Lemony Snicket die Kinderbücher „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“, sie machten Handler zum Bestsellerautor, über 60 Millionen Exemplare wurden verkauft. Handler hat seitdem zahlreiche andere Romane veröffentlicht, er schreibt zudem Theaterstücke und spielt Akkordeon in der Band The Magnetic Fields. Im Rahmen der MeToo-Bewegung wurde Handler mit Vorwürfen mehrerer Frauen konfrontiert. Er soll ihnen gegenüber anzügliche Bemerkungen gemacht haben. Handler entschuldigte sich. Er ist mit der Illustratorin Lisa Brown verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn ist 17 Jahre alt.

Was, denken Sie, steckt dahinter?

Ich glaube, es geht darum, dass Menschen sich entmachtet fühlen. Und ich glaube, dass es sehr verlockend ist, auf diese Art Macht ausüben. Du kannst jemand sein, von dem noch niemand was gehört hat, aber du kannst gewisse Sätze sagen und dadurch Macht bekommen. Ich weiß nicht, wo uns das hinführen wird.

Lemony Snickets „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ war in Deutschland nie richtig erfolgreich. Für alle, die Ihre Bücher also nicht kennen: Worum geht es eigentlich?

Es geht um drei Waisenkinder, denen schreckliche Dinge passieren, und das immer wieder. Die Bücher knüpfen an die Gothic-Horror-Tradition in der Literatur an, die ich selbst sehr mochte als Jugendlicher. Ich war immer enttäuscht von Büchern, in denen es aussah, als würde jemand sterben, und dann blieben alle am Leben.

Warum sollten Kinder so was lesen wollen?

Ich glaube, Menschen haben immer gerne schreckliche Geschichten gehört. Die älteste Literatur, die wir kennen, ist voller Konflikte und Gewalt. Meiner Meinung nach ist es sehr verstörend, auf der Welt zu sein, oft auch furchteinflößend. Und ich glaube, eine Geschichte, in der das ausgebreitet wird, kann dazu anregen, über sich selbst nachzudenken. Mich wundert es ehrlich gesagt, dass mir diese Frage so oft gestellt wird. Klar, es gibt auch viele schöne friedliche Bücher, aber wir Erwachsenen lieben doch auch Mord und Totschlag, die Bestsellerlisten sind voll davon.

Ihr Sohn wurde, kurz nachdem Ihre ersten Bücher erschienen waren, geboren. Hat es Ihr Schreiben verändert, Vater zu sein?

Ich glaube, es hat mir geholfen. Wenn man ein kleines Kind hat, sucht man seine Umwelt ständig nach Gefahren ab, man scannt jeden Raum, den man betritt. Das hat es für mich leichter gemacht, mir gefährliche Dinge auszudenken.

Haben Sie die Bücher auch für Ihren Sohn geschrieben?

Eigentlich nicht. Er hatte lange Zeit Angst, sie zu lesen, weil er sich so davor gegruselt hat.

Ihr eigener Vater war ein deutscher Jude …

… er ist in Danzig aufgewachsen, das damals in Deutschland lag, ja. Er war noch ein Kind, als er 1939 vor den Nazis nach San Francisco geflohen ist. Viele aus meiner Familie haben es nicht geschafft, viele aber schon. Für mich waren das alles meine Cousins, ich habe erst später verstanden, dass ich mit vielen von ihnen nur entfernt verwandt bin, dass sehr viele Menschen fehlten. Ich bin mit Geschichten aus den Konzentrationslagern aufgewachsen, darüber, wie meine Verwandten sich versteckt haben, wie sie herausfanden, über welche Länder man fliehen kann. Ich war früh damit konfrontiert, dass die Welt sehr feindselig sein kann.

Bei welchen Anlässen wurden diese Geschichten erzählt?

Often at family gatherings when we were all sitting together eating. The point was to keep these stories alive. And because so many had not survived, it was also about filling in the gaps. There were many fragments, incomplete narratives.Oft bei Familienfesten, wenn wir alle zusammen beim Essen saßen. Es ging darum, diese Geschichten lebendig zu halten. Und weil eben so viele nicht überlebt hatten, auch darum, die Lücken darin zu füllen. Es gingen viele Fragmente um, unvollständige Narrative.

In „Poison for Breakfast“ erzählen Sie die Geschichte einer Frau, die sich zusammen mit ihrer Schwester im KZ ausmalt, die Welt um sie herum sei ein schicker Country Club. Taugt Fantasie als Überlebensstrategie?

Ich glaube, Kreativität und Erfindungsreichtum sind oft das, was Menschen in schrecklichen Zeiten rettet. Sich etwas vorzustellen, was in der Zukunft passieren könnte, selbst wenn es erst in fünf Jahren ist, sich etwas Fantastisches auszumalen …

Gibt es diese Frau, von der Sie erzählen?

Ja, eine Freundin meiner Großeltern hat mir diese Geschichte erzählt, sie fand sie lustig. Es ist eine lustige Geschichte.

Die Art von lustig, die einem im Hals stecken bleibt? Würden Sie das als typisch jüdischen Humor beschreiben?

Absolut. Die besten Nazi-Witze kommen von Juden. Ich glaube, sehr furchtbare Umstände und sehr lustige Umstände treffen sich an einem gewissen Punkt, beides kann gleichzeitig stattfinden. Das ist für mich eine sehr jüdische Idee, es gibt sie aber nicht nur im Judentum.

In Ihrem neuen Buch passiert nicht sonderlich viel, eigentlich ist es eine Art Gedankenstrom, dem der Leser folgen darf. Es wurde jüngst wissenschaftlich nachgewiesen, dass es Menschen guttut, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, und dass das dieselben Gehirnareale aktiviert, in denen Kreativität verortet wird. Sind wir dabei, das zu verlernen, weil wir jede freie Minute mit unserem Smartphone füllen?

Ich habe es, solange es nur ging, vermieden, mir ein Handy anzuschaffen. Bis irgendwann klar war, dass es der einzige Weg ist, auf dem mein Sohn mit seinen Freunden kommuniziert, und weil ich natürlich auch mit ihm kommunizieren will, musste ich mir eines holen. Ich habe es immer genossen, unerreichbar zu sein, sobald ich das Haus verlasse, und ich versuche das, wo es geht, aufrechtzuerhalten. Ich schreibe meine Bücher mit der Hand. Ich will nicht auf einem Gerät arbeiten, das auch mein Fernseher und mein Postfach ist.

Sie schreiben Ihre Bücher mit der Hand, auf Papier?

Ja, und wenn ich das erzähle, reagieren die Leute mittlerweile so, als würde ich sie in Stein meißeln. Für mich ist es der einfachste Weg, um mich von allem zu lösen. Es ist ähnlich wie beim Lesen – ab und zu schaust du auf, lässt deine Gedanken schweifen, ich finde das sehr wichtig.

Wann haben Sie das Handy bekommen?

Vor drei Jahren etwa. Und es hat mich traurig gemacht, dass es wirklich unmöglich geworden war, ohne zu leben. Es gab in San Francisco irgendwann keine Taxis mehr, nur noch Uber, dafür braucht man ein Handy. Und seit der Pandemie gibt es keine Speisekarten mehr in Restaurants, nur noch diese QR-Codes. Ich mag das nicht, ich lasse mein Handy gerne zu Hause, wenn ich mich mit jemandem treffe, weil ich keine Lust habe, gestört zu werden. Und jetzt muss ich es mitbringen, weil ich ohne Handy nichts bestellen kann.

Was, denken Sie, macht die Pandemie mit der Literatur? Geht es Ihnen auch so, dass Filme oder Bücher, in denen die Pandemie nicht vorkommt, anachronistisch wirken?

Vielleicht ist es wie mit Filmen, in denen das World Trade Center gezeigt wurde, einfach nur damit klar ist, dass man sich in New York befindet. Nach 9/11 hatten diese Bilder plötzlich etwas Elegisches, als wollte der Filmemacher damit etwas sagen. Mein Sohn ist Teenager, einen großen Teil seiner Highschool-Zeit hat er mit einer Maske verbracht. Ich bin gespannt, wie Highschool-Filme für ihn irgendwann aussehen werden.

Glauben Sie, dass Ihr Sohn viel von dem verpasst hat, was diese Jahre als Teenager ausmachen?

Schwierig war vor allem die soziale Mobilität. Als Jugendlicher hast du deine Freunde, kleine Dramen, die passieren, du lernst neue Leute kennen, findest heraus, wer du bist. Das ist so wichtig in diesem Alter, das hat mein Sohn alles verpasst. Aber wissen Sie, als ich in der Highschool war, hatte ich viele Mitschüler  aus Einwandererfamilien, die aus Ländern in die USA gekommen waren, in denen Krieg herrschte, die buchstäblich aus dem Kugelhagel nach San Francisco gekommen waren. Verglichen damit ist es nicht so schlimm, dass mein Sohn in der Highschool eine Maske tragen musste.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.