Berlin-Vor der schweren Tür hatte sie mich gewarnt. Die mächtige Tür eines ehrwürdigen Gründerzeithauses in der Potsdamer Straße, zwischen Sexshop, Leihhaus und Varieté. Es verblüfft das hochherrschaftliche Treppenhaus, dessen Stufen man erklimmt bis zur Beletage-Wohnung der berühmten Berliner Grand Dame der Travestie. Der schmächtige Hausdiener öffnet die Tür.
Nein, es ist nicht der Diener.
Es ist Gloria Viagra selbst. Vor der Maske.
Ihre Majestät
Wie überwältigend der Kontrast ist zwischen diesem sanften, unmännlichen Wesen und der wahren Gloria Viagra, der Selbstverwirklichung als Kunstfigur. Nein, keine Kunstfigur, sondern die innere Wahrheit, die nach außen drängt mit Macht. Das Wesen der Dragqueen: ihre Majestät. Jede Dragqueen ist eine Königin.
Ich folge ihr durch den Dschungel der Wohnung: ein grandioses Chaos, wie eine ewige Party oder der ewige Morgen nach der Party. Die riesige Küche mit dem gewaltigen, vollgestellten Tisch, den Pflanzen, den Katzen, Glorias Hund auf dem abgefuckten Sofa. Das Almodóvar-Filmposter darf nicht fehlen.
Im Bad sitze ich auf dem Klodeckel und schaue hinauf zu Gloria vor dem Spiegel, darf ihr zuschauen beim Gloria-Werden. Quasi der Glorifizierung. Dabei trinken wir Waldmeistersekt und reden. Über eine Kindheit unter Berliner Hausbesetzern und Kommunarden. Linke Ideen gehören zu Glorias DNA. Genau wie die ständige Lust an der Verweiblichung. Das Bedürfnis, das sie schon als Kind spürte. Ein Spiel. Kein Spiel.

Nicht jede Baby-Dragqueen dieser Welt hat das Glück, eine tolerante alleinerziehende Mutter mitsamt avantgardistischer Community zu haben. Keinen Patriarchen als Paterfamilias, dem man sich unterzuordnen hat, als wäre es Naturgesetz, womit man sich zugleich ihm und dem Patriarchat selbst unterordnet. Kein Druck auch, sich zu entscheiden: Bist du ein Mann oder eine Frau? Eine Dragqueen ist keine trans Frau. Trans Frauen oder Männer sind Frauen beziehungsweise Männer im falschen Körper (denen dringend der Zugang zu einer Geschlechtsangleichung und somit der körperlichen Selbstbestimmung erleichtert werden sollte, anstatt an dem vorurteilsgeprägten Transsexuellengesetz festzuhalten, nach Meinung der Autorin). Eine Dragqueen aber ist niemals im falschen Geschlecht. Sie liebt den Körper, in dem sie herrscht. Sie schillert. Sie ist vollkommen, grandios und vereint in sich die sexuelle Ausstrahlung von zwei Geschlechtern mindestens. Oder, für Deutsche: wie eine Italienerin.

Am 26./27. Juni 2021 im Blatt:
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Und Glorias kleiner Schnauzbart bleibt stehen, selbstironisch. Damit nur kein Missverständnis aufkommt.
The show must go on
Glorias bewegtes Leben zwischen sexy Berlin und Ibiza, als DJane und Partyqueen. Den Künstlernamen Gloria Viagra hat sie sich damals zugelegt, leicht auszusprechen auch für spanische Fans. Ihre Karriere als Dragqueen und Star des Nachtlebens dauert schon seit lange vor der Jahrtausendwende. 40 Jahre Party! Aus ihrer Szene ist sie heute eine der Letzten, die noch da sind. Immer noch nicht bürgerlich geworden.
Nur wie von einem Schleier müder Lässigkeit bereift sind ihre Züge, die sie bearbeitet mit ihrer Schminkroutine, so wie ein Schauspieler, der eine Rolle schon so lange spielt, dass er sie nicht mehr ablegt. Eine leise Erschöpfung, die das Ende weder ersehnt noch zu erwarten hat. Die Show muss weitergehen in Ewigkeit. Zirkusmelancholie.
An Tag meines Besuches im April 2021 ächzt die Berliner Kulturszene unter dem bleiernen Gewicht der pandemischen Lage. Die Stimmung der letzten Monate wandelte sich schleichend vom Schock zur Verzweiflung. Blüten der Nacht wie Gloria: für fast ein Jahr einfach verschwunden. Aus dem Bewusstsein getilgt.
Genau das ist der Grund, warum Gloria gemeinsam mit Freunden die Idee der sogenannten Pride-Walks ins Leben rief – stolze Spaziergänge, um sich zu zeigen. Um auf der Straße daran zu erinnern, dass es dieses Leben gibt. Dass solche Lebensentwürfe möglich sind. Denn im Fernsehen, in der Schule, im Alltag gibt es Menschen wie Gloria viel zu selten. Man muss zeigen, dass man ist, um zu sein. Damit Gleichgesinnte aufatmen, sich weniger alleingelassen fühlen.
Und wenn es manchen nicht gefällt, dann zeigt man es ihnen erst recht. Es gab schon mehrmals Anfeindungen und Angriffe bei den Pride-Walks. Auch dieses Mal wird es wieder passieren – quasi sofort wird es beginnen. Und das in Schöneberg.
Es kostet Mut, als Dragqueen am hellen Tag auf die Straße zu gehen. Für andere Menschen ist das Nachtleben ein Abenteuer. Für Dragqueens ist es der sicherste Lebensraum. Dasselbe gilt auch für Schwule, Lesben, trans Frauen und trans Männer und alle anderen sexuellen Identitäten hinter dem Kürzel LGBTQIA+, die sich dem heteronormativen Dogma entziehen.

Wer wagt, darüber zu lachen, soll sich den Spieß doch mal umgedreht vorstellen: durch eine Norm gezwungen zu sein, die Kleidung des falschen Geschlechts zu tragen, sich dem falschen Geschlecht anpassen zu müssen, um nicht aufzufallen. Um nicht erschlagen zu werden. Oder, wie in den meisten Ländern, juristisch verfolgt zu werden, bis hin zur Todesstrafe. Kein Heterosexueller oder Cis-Mensch zu sein ist kein Akt der Provokation, auch wenn es provoziert. Menschen aus der LGBTQIA+-Community wollen nicht provozieren, sie werden provoziert, durch die Norm. Sie tun niemandem etwas, außer sich zu erlauben, sie selbst zu sein.
Als Gloria Viagra sich jüngst um einen Listenplatz bei der Linkspartei im Berliner Landesparlament bewarb (und ihn auch bekam), gab es kleine Lästereien in der Community: weil sie keine „echte“ trans Frau sei, da ohne Geschlechtsangleichung. Weil sie angeblich Menschen vor den Kopf stoßen könnte, die um ihr Recht auf eine Geschlechtsangleichung kämpfen. Wer darf sprechen? Warum nicht die auffälligste und lauteste Farbe der LGBTQIA+-Fraktionen, die Dragqueen? Wenn es sonst keiner macht?
Action!
Während wir plaudern, schreitet Glorias Verwandlung voran. Angeklebte Wimpern, roter Lippenstift. Gloria blüht immer mehr auf, wird immer mehr sie selbst. Die Korsage angelegt – verflixte Lockdown-Kilos! Das Paillettenkleid. Die orangerote Perücke – et voilà, das ist sie, das ist sie! Gloria Viagra!
Noch die mörderisch hohen Schuhe, und der Fotograf Uwe Hauth und ich folgen dem über zwei Meter großen, glamourösen Turm durch das besagte hochherrschaftliche Treppenhaus. Ein netter Nachbar grüßt.
Rauf auf die Straße!
Die Leute auf der Potsdamer. Viele sind freundlich, Fans fragen nach Autogrammen, als wir am Wintergarten Varieté vorbeischauen, das sich für die Wiedereröffnung rüstet. Böse Blicke einer alten Frau am Reichpietschufer.
Spätestens auf Höhe der Staatsbibliothek werden wir verfolgt von Jungs auf E-Scootern. Beschimpfungen, Umkreisungen. Schließlich wird es ernsthaft bedrohlich. Sie umstellen uns, einer steigt ab von seinem E-Scooter und tritt angriffslustig auf uns zu. Es sind Jugendliche in der Pubertät. Die Lebensphase des größten Normativitätsdrucks. Jugendliche mit Migrationshintergründen. Erniedrigte, die sich freuen, nach unten treten zu können, auf vermeintlich Schwächere, die sie noch weiter am Rand der Gesellschaft wähnen als sich selbst.

Die Autorin dieses Textes konnte den tätlichen Angriff durch eine sogenannte apotropäische Geste (das Entblößen ihrer Brüste) abwehren, der Anblick cis-weiblicher Nacktheit schlug die Jugendlichen in die Flucht. So etwas funktioniert meistens.
Was verbindet diese jungen Männer mit der bösen alten Frau? Der Fundamentalismus, das Verhaftetsein in einer Weltordnung, die der Vergangenheit angehört. Die einzigen Gesellschaften, die auf eindeutiger Zuordnung eines binären, entweder/oder männlich oder weiblichen Geschlechts bestehen, sind diejenigen, die das zwanghafte Bedürfnis haben, die Menschheit einzuteilen in Männer und Frauen. Weil nur dann kein definitorisches Hindernis im Wege ist bei der Unterdrückung der Frau.
A drag queen is a girl’s best friend.


