Aufgeklärte Spiritualität

Feministisch-spiritueller Ratgeber: Witches und andere Bitches

Hexenzirkel als Safe Space, Kristalle gegen Mansplainer: Ein Gespräch mit den Schwestern und Autorinnen Hannah und Marie Krutmann über ihr neues Buch.

Auch Placebo ist eine Wirkung: „Tarotkarten bringen in Kontakt mit dem eigenen Bauchgefühl.“
Auch Placebo ist eine Wirkung: „Tarotkarten bringen in Kontakt mit dem eigenen Bauchgefühl.“Caroline Heinecke

Berlin-Oma Gisela war's. Sie hat Hannah und Marie Krutmann schon früh für spirituelle Themen sensibilisiert, hat sie entführt in die Welt der heilenden Kristalle. Viele Jahre später vertieft sich Hannah noch immer gern in die Thematik, während Marie eher skeptisch auf Tarotkarten, Räucherrituale und Horoskope blickt. Trotzdem haben die beiden Schwestern zusammen ein Buch geschrieben, das viel mehr ist als ein spiritueller Ratgeber.

„Everyday Magic – ein Handbuch für alltagstaugliche und empowernde Spiritualität“ – eigentlich wird der brave Titel dem Inhalt kaum gerecht, den Hannah und Marie auf knapp 300 Seiten zusammengebracht haben. Es ist ein schlaues und kritisches Buch, eine sensible Einführung in eine politisch und feministisch aufgeklärte Spiritualität und eine Abrechnung mit der naiven, realitätsfernen Eso-Szene gleichermaßen. Wir haben zwischen den Kristallen und Kugeln in Hannah Krutmanns Wohnung Platz genommen und mit den beiden darüber gesprochen.

Die Mondkugel fest im Griff: Hannah (rechts) und Marie Krutmann.
Die Mondkugel fest im Griff: Hannah (rechts) und Marie Krutmann.Caroline Heinecke

Hannah und Marie, mir fällt es gar nicht so leicht, euer Buch einzuordnen. Wenn ich gleich zum Dussmann auf der Friedrichstraße fahren und danach suchen würde – in welcher Abteilung würde ich es finden?

Hannah Krutmann: Das kommt tatsächlich auf die Buchhandlung an. In manchen Läden steht unser Buch bei den feministischen Sachbüchern, zwischen Margarete Stokowski und Julia Korbik, was uns total freut. In anderen Geschäften sind wir in der Eso-Ecke, meistens aber bei den Selfhelp-Büchern.

Ich glaube, bei den Begriffen „Selfcare“ und „Selfhelp“ läuft vielen Menschen ein kalter Schauer über den Rücken, ein bisschen gilt das doch als die „Loser-Ecke“ im Bücherladen. Oder hat sich daran etwas geändert?

Hannah Krutmann: Ich glaube schon. Auch, weil es in den vergangenen Jahren sehr starke Bücher in diesem Bereich gegeben hat. „Radikale Selbstfürsorge. Jetzt!“ von Svenja Gräfen zum Beispiel, oder „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ von Şeyda Kurt. Die strahlen etwas sehr Empowerndes aus und nicht mehr diese Verzweiflung.

Marie Krutmann: Das Vokabular, das dort benutzt wird, hat sich verändert. Wir schreiben in unserem Buch ja gleich am Anfang, dass wir uns von der Sprache vieler Ratgeber bisher nicht abgeholt gefühlt haben. Dass sie der Leserin suggerieren, sie sei ganz klein und ratlos, brauche dringend fremde Hilfe.

Hannah Krutmann: Um das zu umgehen, haben wir unser Buch sehr persönlich geschrieben. Wir machen uns darin durchaus verletzlich und schreiben nicht einfach aus der Perspektive zweier Expertinnen heraus. Sachbücher dieser Art sind relativ neu, sie erleichtern vielen Leserinnen und Lesern den Zugang. Weil sie sich eben nicht erst klein und mickrig fühlen müssen, um dann von oben herab Ratschläge zu empfangen.

Karten, Öle, Elixiere: Auch für moderne Hexen gehört das wohl zur Grundausstattung.
Karten, Öle, Elixiere: Auch für moderne Hexen gehört das wohl zur Grundausstattung.Caroline Heinecke

Eines eurer Unterkapitel heißt „Selbstfürsorge als Akt der Selbstermächtigung“, darin beschreibt ihr Selfcare als „eine Methode des politischen Untergrunds“. Ist Selbstfürsorge entscheidend, um politisch aktiv werden zu können, gerade in kritischen Zeiten wie unseren?

Marie Krutmann: Zum einen wollen wir zeigen, dass Selfcare nicht bloß ein Hashtag auf Instagram ist. Dass sie sich nicht einfach so konsumieren lässt. Das wird in der Werbung und auf sozialen Medien oft suggeriert, was dazu führt, dass Selbstfürsorge als etwas wahrgenommen wird, das tendenziell besser gestellten Menschen vorbehalten ist. Zum anderen wollten wir daran erinnern, dass Aktivistinnen und Aktivisten in den Sechzigern und Siebzigern bewusst Selbstfürsorge praktiziert haben, um überhaupt die Kraft aufbringen zu können, sich politisch zu engagieren. Und es waren eben gerade Minderheiten, die verstärkt meditiert, Yoga gemacht oder Journaling betrieben, also ihre Gedanken und Ziele kontinuierlich formuliert und aufgeschrieben haben. Das in Erinnerung zu rufen, war uns wichtig, weil es im Moment die Tendenz gibt, Selfcare für etwas Egoistisches zu halten. Dabei kann Selbstfürsorge gerade jetzt ein Überlebensmechanismus sein und dazu befähigen, auch andere Menschen zu unterstützen.

Die enge, gendernormative Sprache der Astrologie wird gerade aufgebrochen.

Hannah Krutmann

So, wie ich mir bei einem Notfall im Flugzeug erst selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen muss, damit ich genug Puste habe, um auch den Sitznachbarn zu helfen.

Marie Krutmann: Genau. Wobei wir natürlich nicht einfach sagen: Hey, du wirst diskriminiert, dann nimm doch mal ein schönes Schaumbad! Gerade Menschen, die jeden Tag Kämpfe austragen müssen, welche auch immer das sein mögen, brauchen mehr und intensivere Mechanismen, auf die sie zurückgreifen können.

Du meinst spirituelle Rituale und Routinen, um die es in eurem Buch geht. Wie definiert ihr Spiritualität darin?

Hannah Krutmann: Auch der Begriff „Spiritualität“ taucht in der Unterzeile unseres Titels auf, aber mir ist eigentlich das Wort „Magie“ viel lieber. Denn darum geht es: um Magie und Hexenkunst. Bei Spiritualität denkt man schnell an Religion oder Esoterik, uns geht es eher um ein Zurückbesinnen darauf, dass wir als Menschen Teil der Natur sind. Also schon etwas Paganes, aber eben nicht wie bei der Esoterik, bei der du dich wieder in neue Regelwerke und Hierarchien begibst, Verantwortung abgibst und im schlimmsten Fall die Wissenschaft leugnest. Es geht nicht darum, sich passiv irgendwelchen Praktiken hinzugeben. Wir wollen eher dazu animieren, eine eigene, individuelle Spiritualität zu entdecken. Für mich beschreibt das der Begriff „Magie“ sehr gut, weil Magie ja in allem stecken kann. In einer Umarmung zum Beispiel, oder jemand hat etwas Wunderbares in der Küche gezaubert, das etwas macht mit den Gästen am Tisch.

Sonne und Saturn: Astrologie ist für Millennials wieder ein großes Thema.
Sonne und Saturn: Astrologie ist für Millennials wieder ein großes Thema.Caroline Heinecke

Überhaupt grenzt ihr euch stark ab von vielen gängigen Praktiken der Esoterik, blickt kritisch auf „Spiritualität als Konsumgut“ oder „toxische Positivität“. Ihr zeigt auf, wo sich White Supremacy in der Eso-Szene abzeichnet oder kulturelle Aneignungen stattfinden. Gibt es so etwas wie eine aufgeklärte, politisch-korrekte Spiritualität?

Hannah Krutmann: Wie in allen Lebensbereichen findet auch hier ein Lernprozess statt. Die Astrologie zum Beispiel ist ja eine Symbolsprache, die eigentlich das Potenzial hat, total inklusiv und universell zu sein. Es geht um Himmelskörper, Zeichen und Symbole, die im Grunde identitäts- und geschlechtsübergreifend sind. Trotzdem wurde in der Astrologie lange eine sehr enge, gendernormative Sprache benutzt: Männer kommen vom Mars, Frauen von der Venus, es gibt männliche und weibliche Energien. Mittlerweile wird diese Sprache von vielen Astrologinnen und Astrologen aufgebrochen, es gibt etwa die Strömung einer queeren Astrologie.

Marie Krutmann: Genauso ist das mit dem Thema der kulturellen Aneignung, das mehr und mehr in den Fokus genommen wird. Viele spirituelle Rituale kommen ja aus anderen Kulturkreisen, und einigen Menschen ist kaum bewusst, dass sie sich während ihrer Selbstfindung nicht immer respektvoll anderer Kulturen bedienen. Auch Nachhaltigkeit wird im spirituellen Kontext zum Thema. Trotzdem mussten wir beim Schreiben unseres Ratgebers zum Beispiel lange recherchieren, um Anbieter fairer Kristalle zu finden, oder Hersteller, die Räucherwerk lokal produzieren. Weißer Salbei etwa wächst nur auf dem amerikanischen Kontinent, wo er von indigenen Völkern für Rituale benutzt wird, die sie bis vor wenigen Jahrzehnten gar nicht frei praktizieren durften. Und nun wird der weiße Salbei nach Europa importiert, damit die Leute hier indigene Rituale kopieren können. Das hat schon etwas Zynisches. Interessant finde ich hierzu auch den Hype um Manifestationen, um die Vorstellung also, man könne Ziele und Wünsche auf einen Zettel schreiben und sie dann allein durch die eigene Vorstellungskraft erreichen. Nicht selten sind es weiße, privilegierte Personen, die glauben, damit Erfolg gehabt zu haben. Die dann den Job bekommen, den sie wollten, oder sich endlich einen Porsche leisten können. Wir werfen in unserem Buch die Frage auf: „Is it Manifestation or is it White Privilege?“ – war’s die Manifestation oder einfach das weiße Privileg, das geholfen hat?

Hannah Krutmann: Was sich gerade außerdem wandelt, ist die feministische Figur der Hexe. In den Siebzigern war sie noch sehr exklusiv, hat Männer grundsätzlich ausgeschlossen und wurde auch benutzt, um transfeindliche Ideologien zu verbreiten: Wer nicht als Frau geboren wurde, darf nicht mitmachen. Auch im Hexenkontext gibt es TERFs (Trans-Exclusionary Radical Feminists, Anm. d. Red.).

„Witches supporting other Bitches“: Die Situation auf der Illustration würde gut auf einen Slut-Walk passen.
„Witches supporting other Bitches“: Die Situation auf der Illustration würde gut auf einen Slut-Walk passen.Caroline Heinecke

Die Hexe spielt in eurem Buch eine zentrale Rolle. Warum kann sie für moderne Feministinnen und Feministen ein Vorbild sein?

Marie Krutmann: Wenn man die Figur der Hexe mal ganz bildlich nimmt, also so, wie sie in Geschichten und Märchen vorkommt, dann vereint sie schon vieles in sich, was wir auch heute cool und wichtig finden. Sie kann zaubern, hat also eine Kraft in sich, die sie spüren und für ihre Zwecke nutzen kann. Sie kann solo unterwegs sein oder sich in einem Hexenzirkel zusammenschließen und ihre Kräfte mit anderen Hexen bündeln, was ein Sinnbild für weiblichen Support ist. Und sie hat einen Besen, mit dem sie wegfliegen kann, ist also unabhängig. Das sind schon einige Bad-Ass-Qualitäten.

Hannah Krutmann: Vor allem definiert sie sich nicht über die Beziehung zu irgendjemand anderem, was bei weiblichen Darstellungen in unserer Kultur selten ist. Sie ist nicht die Mutter oder Frau oder Geliebte von irgendjemandem.

Marie Krutmann: Uns geht es im Buch aber auch um die Geschichte der Frauen, die als Hexen verfolgt und getötet wurden. Auch sie sind ein Teil unserer Kulturgeschichte, über den man in der Schule aber nur wenig erfährt – und wenn, dann hat das oft einen witzigen Unterton. Dabei steckt dahinter ein großes Leid von Menschen, die irgendwie anders waren, als sich die Gesellschaft das vorgestellt hat. Ein Leid, das sich auf gewisse Weise weitervererbt hat. Wir wollen zeigen, wie die Gesellschaft heute auf unabhängige, alleinstehende Frauen blickt, oder auf queere Personen, welche Position ihnen in der Gesellschaft zugeteilt wird. Und es geht uns um den Begriff „Hexe“ an sich, der nach wie vor als Schimpfwort für Frauen benutzt wird, die Macht wollen. Ich erinnere an Trump, der Hilary Clinton im Wahlkampf häufig als „witch“ bezeichnet hat. Wir wollen das umdeuten und selbstbewusst sagen: Ja, wir sind Hexen, wir sind unabhängige Frauen, die eine Kraft in sich tragen, die sich mit anderen zusammenschließen und gegenseitig stärken können.

Damit uns die Puste bleibt: Es gibt auch lokal produziertes Räucherwerk.
Damit uns die Puste bleibt: Es gibt auch lokal produziertes Räucherwerk.Caroline Heinecke

Gibt es aktuell also auch zum Begriff der Hexe eine Debatte um die Selbstbezeichnung und die Fremdbezeichnung, wie es bei anderen Wörtern der Fall ist? Mir ist dazu im Buch eine Illustration zweier weiblicher Figuren aufgefallen, die auf einer Demo ein Schild in die Höhe halten: „Witches supporting other Bitches“. Man könnte sich diese Situation auf einem Slut-Walk vorstellen, bei dem es eben auch um Begriffe und ihre Bedeutungen geht.

Hannah Krutmann: Ja, sich selbst als Hexe zu bezeichnen, ist durchaus ein politisches Statement.  Und wenn mich eine feministische Freundin als Hexe bezeichnet, dann ist das ein Kompliment – wenn mich irgendein Mann durch diesen Begriff herabsetzen will, ist es das nicht.

Marie Krutmann: Der Begriff hat Provokationspotenzial, was ich spannend finde. Allein optisch werden Hexen meist als hässliche, alte Frauen dargestellt. Und wenn du dieses Wort dann für dich selbst nutzt, transportierst du schon bestimmte Ansichten und Ideale. Eine Position, die du in unserer patriarchalen Gesellschaft einnehmen willst. Die Hexe ist das krasse Gegenteil von dem, was von einer Frau gemeinhin erwartet wird.

Die Hexen und ihr Buch
Die Autorinnen Hannah Krutmann, Jahrgang 1987, und Marie Krutmann, Jahrgang 1991, leiten gemeinsam die Kreativagentur Almost und das gleichnamige Magazin, das als eine partizipative Plattform für zeitgenössische Texte funktioniert. Die Berlinerinnen schreiben als freie Autorinnen für verschiedene Medien, Marie ist zudem Lektorin. Ihr Ratgeber „Everyday Magic – ein Handbuch für alltagstaugliche und empowernde Spiritualität“ ist bei Lübbe Life erschienen, Köln 2021, 287 Seiten, 18,90 Euro.

Überhaupt geht es in eurem Buch viel darum, aktiv zu werden. Sich aktiv neu zu verorten in der Welt, individuelle Rituale und Routinen zu finden, die gut tun. Es geht weniger darum, etwas Bestimmtes zu glauben.

Hannah Krutmann: Es geht darum, mit sich selbst und mit anderen in Kontakt zu kommen, sich verbunden zu fühlen, die eigene Kraft zu spüren. Und dafür reicht Glauben nicht aus, dafür musst du ins Machen kommen. Wir wollen dazu anregen, etwas auszuprobieren und zu sehen, ob es sich stimmig für dich anfühlt – oder eben auch nicht. Uns hat neulich eine Freundin angerufen, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie einen neuen Job annehmen soll. Dann hat sie eine Tarotkarte gezogen und seitdem fühlt sie sich bestärkt in ihrer Entscheidung. Natürlich sagt ihr die Karte nicht, ob sie einen Arbeitsvertrag unterschreiben soll oder nicht – es geht bei Tarot um die eigene Interpretation, die wiederum eng verbunden ist mit dem Bauchgefühl. Die Karte hat unsere Freundin also mit ihrer eigenen Intuition in Kontakt gebracht. Auch darum geht es: Sich mal abzugrenzen von den Ratschlägen und Meinungen anderer und wirklich auf sich selbst zu hören.

In Hannahs Wohnung, unverkennbar: Neben Exemplaren des eigenen Buches ziert ein Kristall das Bücherregal.
In Hannahs Wohnung, unverkennbar: Neben Exemplaren des eigenen Buches ziert ein Kristall das Bücherregal.Caroline Heinecke

Was den Glauben an die tatsächliche Wirkung von Tarotkarten oder Kristallen betrifft oder an die Thesen der Astrologie, ist mir in eurem Buch eine Stelle besonders im Gedächtnis geblieben: „Alles nur Placebo? Mag sein – aber daran ist ja nichts verkehrt.“

Marie Krutmann: Genau, und dafür ist die Tarotkarte tatsächlich ein gutes Beispiel. Selbst wenn sie dir etwas zeigt, das auf dich überhaupt nicht zutrifft oder das du total ablehnst, hast du im Nachdenken über diese eine Karte wieder etwas über dich gelernt. Und dann ist doch egal, ob dahinter eine tatsächliche Wirkung steckt.

Ist das nicht eine Position, mit der ihr euch gewissermaßen Absolution erteilt? Sprich: Eigentlich egal, ob von unseren Tipps irgendwas funktioniert, Hauptsache, irgendwer glaubt daran.

Hannah Krutmann: Wir haben das Buch so inklusiv wie möglich geschrieben, auch im Sinne von: Wieviel möchtest du glauben? Auch wir beide haben ja unterschiedliche Positionen. Während ich mich schon viele Jahre intensiv mit Spiritualität und Ritualen auseinandersetze, blickt Marie eher skeptisch darauf. Das wird im Buch bewusst sehr deutlich. Ich glaube, das mit dem Placebo-Effekt im Hinterkopf zu haben, hilft Leuten, die solchen Themen kritisch gegenüberstehen, sich auf das Buch einzulassen. Und dann finden sie beim Lesen vielleicht etwas, das sie in ihr Leben integrieren wollen. Wir wollen Leserinnen und Lesern ganz unterschiedlicher Positionen respektvoll begegnen. Wir sagen niemandem, der oder die mit Engeln spricht: Das ist Bullshit. Und genauso wenig wollen wir Leute bekehren, die eben nicht an die Kraft von Kristallen glauben.

Marie Krutmann: Mir hat das Buch dabei geholfen zu verstehen, warum andere Menschen so etwas machen. Und schon das ist ein Gewinn. Dass ich eben nicht bei jeder Person, die mal Tarotkarten legt, denke: Um Gottes Willen, diese Person ist bescheuert oder verrückt, ein Querdenker.

Oma Gisela war’s: Sie entführte Hannah und Marie in die Welt der Kristalle.
Oma Gisela war’s: Sie entführte Hannah und Marie in die Welt der Kristalle.Caroline Heinecke

Trotz dieser Offenheit werdet ihr an einigen Stellen sehr konkret – und übrigens auch sehr lustig. Ihr empfehlt zum Beispiel Kristalle für bestimmte Situationen, den schlechte Energien absorbierenden Gagat, um mit „nervigen Mansplainern“ zurechtzukommen, oder den kraftspendenden Turmalin in der Handtasche, um Menspreader in der U-Bahn selbstbewusst in die Schranken weisen zu können.

Hannah Krutmann: Wir wollten klassische spirituelle Theorien lustig und auch in Bezug auf aktuelle Themen beschreiben. Viele andere spirituelle Bücher haben nichts mit der aktuellen Lebensrealität zu tun. Sie bleiben sehr abstrakt und komplex. Astrologie beschreiben wir zum Beispiel als eine TV-Serie: Dein Sonnenzeichen ist dein Hauptcharakter, die verschiedenen Häuser sind das Setting, die anderen Planeten stellen wir als Rollen dar. Der Mond, der in der Astrologie für die Gefühlsebene steht, ist „die beste Freundin“, Uranus, der Unabhängigkeit symbolisiert, ist „die ausgeflippte Mitbewohnerin“ und so weiter.

Marie Krutmann: Dieser Vergleich mit einer TV-Serie zeigt auch so schön, dass die Astrologie mit Metaphern arbeitet: Auch eine Serie schaust du dir ja nicht an und glaubst, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler darin diese Szenen gerade wirklich erleben. Es wird eine Geschichte erzählt, und im besten Fall lernst du daraus etwas für dein eigenes Leben. Das zeigt sehr gut, dass es in der seriösen Astrologie eben nicht darum geht zu sagen: Morgen wird dir dieses und jenes passieren. Sondern eher darum, sich etwas anzusehen, das dir etwas über Beziehungen, über Familie, Leben und Tod erzählt. Was du für dich daraus ziehst, bleibt dir überlassen.

Niemand muss Wissenschaft leugnen, um spirituelle Erfahrungen zu machen.

Marie Krutmann

Ihr trefft mit eurem Buch total den Zeitgeist. Warum sind Spiritualität, Kristalle und Manifestationen, gerade auch Sternzeichen aktuell, in dieser Zeit und speziell auch in eurer Millennial-Generation wieder so große Themen?

Hannah Krutmann: Ich glaube, dass die Menschen generell nach Antworten suchen, die sie bisher aus anderen Richtungen bekommen haben. Aus der Religion zum Beispiel oder dem Kapitalismus – Weltbilder, die immer mehr zu bröckeln anfangen, auch durch die Krisen unserer Zeit. Wer jahrzehntelang das Wachstum als oberstes Gebot verstanden hat, will sich in Anbetracht der Klimakrise jetzt hoffentlich umorientieren. Oder die Menschen wollen sich den patriarchalen Hierarchien und Regeln der Religionen nicht mehr unterordnen.

Marie Krutmann: Was unsere Generation betrifft, ist es außerdem so, dass wir wahnsinnig viele Möglichkeiten haben. Wir können alles machen, was wir wollen. Wir müssen nicht mehr den klassischen Weg gehen, den unsere Eltern uns vorgelebt haben. Das heißt aber auch, dass wir uns viel öfter für irgendetwas entscheiden müssen. Und dann suchen wir nach Techniken, die dabei helfen.

Ein schlaues, durchaus kritisches Buch: „Everyday Magic“ ist bei Lübbe Life erschienen und kostet 18,90 Euro.
Ein schlaues, durchaus kritisches Buch: „Everyday Magic“ ist bei Lübbe Life erschienen und kostet 18,90 Euro.Caroline Heinecke

Trotzdem gibt es gerade bei den Millennials auch einen regelrechten Wissenschafts-Hype, manche würden sagen: eine Wissenschafts-Hörigkeit. In Bezug auf die Klimakrise, die ihr angesprochen habt, und aktuell in Bezug auf die Pandemie sowieso. Wie passt das mit der spirituellen Sinnsuche zusammen?

Marie Krutmann: Weder in unserem Buch noch in unserem Leben sind wir jemals an einen Punkt gekommen, an dem wir die Wissenschaft hätten leugnen müssen, um eine spirituelle Erfahrung machen zu können.

Hannah Krutmann: Es ist leider schon so, dass es gerade in der Eso-Ecke, in dieser Spiri-Bubble, einige Leute gibt, die Probleme haben mit der Wissenschaft und ihren Erkenntnissen. Man sieht das ja auch auf Querdenker-Demos, dass da viele Leute aus esoterischen Kontexten dabei sind, oder irgendwelche Yoga-Hippies. Das sind aber meistens Leute, die schon vor der Pandemie Schwierigkeiten mit der Realität hatten.

Inwiefern?

Marie Krutmann: Sie geben sich zum Beispiel einer toxischen Positivität hin, begreifen also für sich als Grundsatz, sich nur auf die positiven Aspekte des Lebens zu konzentrieren – „good vibes only“. Das finden wir total gefährlich, weil es bedeutet, dass sie die Realität ausblenden – das, was politisch gerade passiert auf der Welt, dass es anderen Menschen schlecht geht. Im schlimmsten Fall schaden sie diesen Menschen damit oder lassen sie zurück, weil sie angeblich „schlechte Energien“ verbreiten.

Hannah Krutmann: Aber zum Beispiel gibt es auch längst viele seriöse, moderne Astrologinnen und Astrologen, die sich ganz konkret auf die Probleme unserer Zeit beziehen und sie eben nicht ausklammern. Das ist eine Lücke, die gerade geschlossen wird. Wissenschaft und Spiritualität schließen sich überhaupt nicht aus. Du kannst ja total im Kontakt mit deinem Körper und deiner Spiritualität stehen und dich trotzdem impfen lassen. Und wenn du möchtest, kannst du vor deinem Impftermin meditieren und dir sagen: Beides macht meinen Körper stark für die Herausforderungen unserer Zeit.


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.