Berlin-Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wurde zu Beginn des Wahlkampfs als nächste Regierungschefin gehandelt, leistete sich dann Patzer. Trotz Faktensicherheit wird sie in Interviews aber regelmäßig auf ihre Rolle als Mutter angesprochen, leidet online am stärksten unter Falschmeldungen. Ist die Berichterstattung über Politikerinnen von Sexismus geprägt? Die Berliner Zeitung am Wochenende hat bei der Vorsitzenden des Journalistinnenbundes Friederike Sittler nachgefragt.
Friedrich Merz wollte – oder konnte – im „Bericht aus Berlin“ nicht alle Namen seines CDU-Zukunftsteams aufzählen. Das Medienecho darüber war klein. Was wäre passiert, hätte Annalena Baerbock keine Lust gehabt, ihr Team zu benennen?
Vermutlich ein Shitstorm. Es wird von Fall zu Fall und von Medium zu Medium unterschiedlich sein; die Tendenz aber lässt sich schon feststellen, dass Frauen eher Gefahr laufen, sehr viel kritischer für solche Aussetzer in den Fokus genommen zu werden als Männer. Dazu kommt die Frage: Welche Themen werden bei wem eigentlich aufgegriffen und bei wem dann wiederum nicht? Ein Beispiel ist natürlich die Kindererziehung und die Frage: Wie viel Zeit haben Sie denn dann überhaupt noch für Ihre Familie? Aber es ist mitunter auch eine Frage der Themenauswahl, welche Politikfelder werden abgearbeitet, welche Fragen werden dazu gestellt, in welcher Form werden Fragen gestellt?
Warum ist das so, dass Frauen oder Politikerinnen kritischer betrachtet werden als ihre männlichen Kollegen?
Kaum zu glauben, aber es scheint so, als ob wir uns immer noch nicht daran gewöhnt haben, dass Frauen die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und damit genauso viel Anteil an Entscheidungsprozessen haben müssen, wie Männer auch. Es ist in uns allen offensichtlich drin, dass wir immer Frauen noch mal anders angucken als Männer. Wir wissen, dass Frauen, wenn sie sich exakt identisch verhalten, beispielsweise in einer Diskussionsrunde die gleiche Körpersprache anwenden wie ein Mann, anders betrachtet werden. Gut, wir haben uns dran gewöhnt, dass wir eine Kanzlerin haben. Am Anfang waren da noch viele Entfremdungsprozesse und es ist nicht ohne Grund passiert, dass Angela Merkel sich quasi uniformiert hat, um nicht mehr über bestimmte Themen identifiziert zu werden. Es ist auch kein Wunder, dass jetzt wieder bei Annalena Baerbock über ihre Kleidung geredet wird, während ein Robert Habeck dann schlicht mit Jeans, Hemd und aufgekrempelten Ärmeln daherkommt. Darauf wird eher im Sinne von Coolness eingegangen. Bei Annalena Baerbock ist die Beurteilung des Kleidungsstils ambivalent. Frauen laufen immer viel schneller Gefahr, dass Äußerlichkeiten und familiärer Kontext zum Thema gemacht werden.
Apropos Aussehen, als Annegret Kramp-Karrenbauer 2018 CDU-Chefin wurde, attestierte der Friseur Udo Walz bei Focus Online, dass ihre Frisur „hervorragend“ aussehe. Fällt uns bei Frauen eigentlich nichts Besseres ein?
Vermutlich steht dahinter die Annahme, dass die Leute das auch gerne wissen möchten. Vielleicht werden Medien wiederum vom Publikum belohnt, wenn sie genau diese Themen bringen und sie damit gelesen, geguckt, gehört werden. Aber wir müssen uns dessen bewusst sein, dass es genau da zu diesen Unterschieden kommt, die Frauen trivialisieren. Wer so über Frauen berichtet, verfestigt die sexistische Art und Weise, wie sie betrachtet werden und dass das, was sie zu sagen haben, weniger ernst genommen wird.
Berichten Medien also, was das Publikum will, oder will das Publikum, was Medien berichten?
Man bleibt ja gerne bei dem, was erfolgreich ist. Wobei ich auch glaube, dass man sich wandeln muss, wenn man auf Dauer Erfolg haben will. Es wird auch erfolgreich sein, wenn wir Männer und Frauen gleichberechtigt darstellen und wenn wir für Frauen keine anderen Parameter anlegen als für Männer. Aber die Gewohnheit über all die Jahrzehnte ist natürlich eine andere. Und so weit wir in der Gesellschaft mit der Gleichberechtigung gekommen sind, so sehr haben wir eben doch auch die Last der Vergangenheit, wo genau diese Bilder und diese Erwartungen da waren. Aber ich bin überzeugt: Man kann sie sich auch wieder abgewöhnen. Und ich glaube, dass das Publikum es nicht vermissen würde, wenn wir nichts über Stylingberatung für Politikerinnen lesen könnten.

Journalistinnen sind in Führungspositionen massiv unterrepräsentiert. Ist die Art der Berichterstattung des Wahlkampfes vielleicht auch eine Folge dieser Diskrepanz?
Ja, würde ich schon so sehen. Dies ist auch so, weil Frauen nicht nur in den Führungspositionen unterrepräsentiert sind. Zählen Sie doch mal nach, wie viele Frauen es in den Hauptstadtbüros der Zeitungen gibt. Das heißt nicht, dass sich jede Frau dafür einsetzen wird, dass Frauen anders betrachtet und dargestellt werden. Dennoch, mehr Frauen in der politischen Berichterstattung und Kommentierung bringt Veränderung.
Sie arbeiten seit 25 Jahren als Journalistin. Welche Veränderungen haben Sie bereits miterlebt?
Wir Frauen sind selbstverständlicher geworden und präsenter. Auch Männer merken plötzlich, das kann ja nicht angehen, dass ich eine Sendung nur mit Männern mache. Oder sie werden darauf angesprochen. Mancher Diskurs lief früher anders. Bestimmte Witze oder Anzüglichkeiten, die kann Mann sich in gemischten Teams so nicht mehr leisten. Und wir Frauen sind so selbstbewusst geworden, zu sagen, das geht so nicht. Und es gibt die solidarischen Männer, die genauso sagen, ey, das geht überhaupt nicht. Das betrifft auch die Sprache, denn das generische Maskulinum ist inzwischen ein Auslaufmodell, die gleichberechtigte Benennung von Frauen und Männern ist für die meisten selbstverständlich.
Wie schätzen Sie die Berichterstattung über Annalena Baerbock ein? Hat sich da seit Merkels erstem Wahlkampf vor 16 Jahren schon was geändert?
Einige Mechanismen der politischen Berichterstattung stören mich sehr. Da gibt es anfangs die Phase, dass eine Person fast schon als Lichtgestalt hochgejubelt wird. Dann scheint automatisch ein Reflex zu entstehen, dass die Person aber wieder auseinandergenommen werden muss. Das passiert sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Martin Schulz war ein Beispiel für wahnsinnige Umfragewerte und hat dann sehr niedrig abgeschnitten in der Wahl. Bei Annalena Baerbocks Kandidatur lobten nahezu alle Medien, wie perfekt die Grünen das gemacht hatten. Dann wurden Fehler gesucht und gefunden.
Das wäre einem Mann nicht passiert?
Männer machen auch Fehler, aber Frauen müssen zu 150 Prozent perfekt sein. Erinnern wir uns an „Kohls Mädchen“, an all die Zweifel an Angela Merkel, die vor allem mit ihrem Frausein zu tun hatten. Wir haben das als Journalistinnenbund schon damals beobachtet, analysiert und kritisiert. Dass Frau Merkel kinderlos ist, unterscheidet Baerbock und Merkel auch noch mal in der Berichterstattung, denn bei der Grünen-Kandidatin kam, wie so oft bei Frauen, die Frage, wer sich denn nun um die Kinder kümmere.
Nach einer Interviewabsage von Annalena Baerbock druckte die Bild am Sonntag eine leere Seite. Wären Sie ihre Beraterin, hätten Sie ihr zu der Absage geraten?
Ich bin zum Glück keine Politikberaterin. Aber es ist eine interessante Frage: Muss man als Politikerin oder als Politiker allen Interviews zustimmen? Sollten sie ausschließlich Interviews geben, allabendlich in den diversen TV-Sendern auftreten, oder müssten sie nicht viel mehr auf Wahlkampfveranstaltungen gehen, in den Diskurs mit Bürgerinnen und Bürgern?
Wären Laschet oder Scholz auch mit einer weißen Seite „geehrt“ worden?
(lacht) Könnte sein, aber muss nicht. Vielleicht haben die Kandidaten längst mal Interviews abgesagt, aber es wurde nicht medienwirksam an die große Glocke gehängt.
Oft konnte man über die Grünen-Wahl lesen, dass Robert Habeck Baerbock die Kandidatur „überlassen“ habe. Männliche Großzügigkeit statt interner Machtkampf. Können sich Politikerinnen oder Frauen in Machtpositionen also nicht durchsetzen?
Ich habe, glaube ich, andersrum noch nie gelesen, dass Merz oder Söder Laschet die Kandidatur überlassen hätten. Laschet hat sich durchgesetzt, wider Erwarten. Das ist die aktive Form, da hat sich jemand durchgesetzt. Aber auch bei Annalena Baerbock und bei Robert Habeck haben die Medien unterschiedlich reagiert. Für die einen musste er zurücktreten, auch wenn’s ihm schwergefallen ist. Aber es gab eben auch die Medien, die gesagt haben, ja, er hat ihr den Vortritt gelassen.
Hat Merkel Stoiber 2002 also auch den Vortritt gelassen?
Damals lautete der Tenor: Stoiber hat sich durchgesetzt. Jahre später war Merkel dann aber ganz offensiv, das hat sie geschickt gemacht. Wahrscheinlich brauchen Frauen eben auch den langen Atem, damit sie zum Ziel kommen, gegen viele Widerstände und sehr viel Abwertung. Medien müssen sich immer fragen, ob sie für die Beurteilung von Frauen andere Wörter als für die Bewertung von Männern verwenden. Darauf muss geachtet werden. Wir sind in den Medien in der Pflicht, die Sprache präzise zu verwenden, zu sagen, was ist; nicht aber Wahrnehmungen subtil zu steuern und Frauen auf Rollenmuster zu reduzieren. Wir bringen als Journalistinnenbund dafür das Konzept „konfliktsensitiver Journalismus“ ins Spiel. Konflikte nicht anheizen, sondern von allen Seiten darstellen.
Merkel war ja lange die „Mutti“, die ihre CDU-Rasselbande im Zaum hielt, dann die „schwäbische Hausfrau“, die auf die schwarze Null pochte. Sprechen wir mit den Mutti-Metaphern Frauen einen resoluten Führungsstil ab?
Unterbewusst fallen uns zu Frauen vielfach andere Beschreibungen, andere Bilder als zu Männern ein. Die fürsorgliche Mami und der stereotype Vati in der verantwortungsvollen Versorgerrolle. Genau das ist das Problem. Und es muss gar nicht böswillig sein, sondern das ist oft auch gefühlsmäßig gesteuert. Aber das macht was mit uns. Merkel ist so stoisch, dass sie das gut überstanden hat. Aber das Problem ist, dass man Frauen in andere Kategorien, in andere Schubladen packt als Männer. Auch Frauen finden es nicht unbedingt in Ordnung, wenn Frauen sich so verhalten wie Männer. Eine Frau in einer Talkshow, die zu dominant auftritt, wird kritischer betrachtet als ein dominanter Mann. Eine Frau, die das Wort ergreift und da mal dazwischenbrettert, hat es in der Regel schwerer als ein Mann, der das Wort ergreift. Das sind alles Dinge, die wir so gelernt haben. Wir müssen das miteinander aufbrechen.
Wäre dann Ihr Ratschlag, dass sich Frauen im öffentlichen Diskurs aktiver zur Wehr setzen, um das Gelernte so aufzubrechen?
Ich glaube, da war Merkel schon immer ganz klug, dass sie über viele Dinge einfach hinweggegangen ist. Hätte sie die Diskussion dazu geführt, hätte ihr das wahrscheinlich geschadet. Aber unsere Aufgabe als Medienschaffende ist, dass wir darüber reflektieren. Jede Redaktion muss, nachdem das Blatt erschienen ist, nachdem die Talkshow gelaufen ist, gucken, war das eigentlich fair? Warum haben wir wieder mehr Männer als Frauen in der Runde gehabt? Haben wir den Frauen andere Fragen gestellt als den Männern?
Eine Studie aus den USA hat ergeben, dass geschlechtsbezogene Angriffe auf Politikerinnen wieder salonfähiger wurden. Kamala Harris stand in den sozialen Medien besonders im Visier, auch Annalena Baerbock wurde Opfer unterschiedlichster Fake News. Warum ist das gerade online so?
Online ist es einfach leichter, irgendetwas zu schreiben, und wir sind gesamtgesellschaftlich im digitalen Diskurs reaktionärer geworden. Durch die digitale Nicht-Kultur wird das verstärkt, eine gewisse Hemmungslosigkeit zieht ein. Manchmal wünsche ich mir einfach ein besseres Benehmen im öffentlichen Diskurs. Stattdessen wird digital oft derjenige mit Likes belohnt, der fürchterlich zugespitzt formuliert.
Geht es online also gar nicht mehr anders?
Differenziertes Argumentieren, Nachdenklichkeit, das wird zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht unbedingt mit Daumen hoch versehen. Das sieht man mitunter aber auch bei den großen Medien, dass sich die Grenzen verschoben haben. Und Frauen erleben, dass sie immens unter Angriffen leiden, gerade in sozialen Medien, dass sie sich teilweise zurückziehen müssen, weil der ganze Hass nicht mehr aushaltbar ist. Das passiert Männern auch, das will ich gar nicht infrage stellen. Aber es ist oft eine andere Qualität, man muss nur auf Renate Künast gucken, aber auch auf viele andere Frauen quer durch alle Parteien. Das finde ich wirklich ein riesiges Problem für unseren politischen Diskurs, für unsere Demokratie.
Ist das für Frauen ein größeres Problem als für Männer?
Eine Politikerin muss sich wieder genau überlegen, was sie anzieht und wo sie wie auftritt und wie hoch die Stöckelschuhe sind. Das sind Nichtigkeiten, und die fressen Zeit, die wir dringend, finde ich, für den ernsthaften politischen, gesellschaftspolitischen Diskurs bräuchten. Merkel hat das gelöst, indem sie jeden Morgen eines ihrer farbigen Jackets aus dem Schrank geholt hat. Während Frauen noch in der Maske sitzen, haben Männer schon längst über etwas anderes nachdenken können oder netzwerken bereits. Frauen fehlt durch vielfältige Zusatzaufgaben oftmals die Zeit, wirklich Punkte zu machen, auch im politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Was bleibt, ist die Verrohung der Debatte, die wiederum unnötige Ressourcen frisst. Deswegen leide ich unter diesem Wahlkampf und denke immer: Können wir bitte mal über die wirklich wichtigen Themen reden?
Über geschlechtsspezifische Themen wurde kaum gesprochen, nicht über Schwangerschaftsabbrüche, Ehegattensplitting, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Alleinerziehende. Ist das alles unwichtig? Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten sind Frauen.
Tja, wahrscheinlich ist es eine gewisse Bequemlichkeit, dass man bisher, mit dem, wie man diskutiert, in den Medien durchkommt und dann entsprechend Quote hat. Und ist es eigentlich zum Beispiel vorstellbar, dass wir in der nächsten Bundesregierung eine Finanzministerin bekommen? Wir haben sehr viel Geld im Zuge der Pandemie ausgegeben. Es werden noch weitere Belastungen auf uns zukommen, durch die Klimaanstrengung, durch weltweite politische Veränderungen. Das Thema Geld ist also ungeheuer wichtig. Und da die Perspektive von Frauen und auch mal die Fiskalpolitik unter Frauengesichtspunkten zu beleuchten, das wäre interessant. Es gibt Leute, die werden sagen, da gibt es keine Unterschiede. Ich bin aber überzeugt, dass es die gibt.
Das Interview führte Maxi Beigang.






