Kunst

Eine Fahne entlarvt das Erbe des Kolonialismus

Der erste Teil der Plastik „Statue of Limitations“ des Künstlers Kang Sunkoo steht im Humboldt Forum. Der zweite Teil wurde jetzt am Nachtigalplatz aufgestellt.

Der Künstler Kang Sunkoo vor seiner Plastik „Statue of Limitations“
Der Künstler Kang Sunkoo vor seiner Plastik „Statue of Limitations“Hanno Hauenstein

Die Erinnerung an 2020 ist noch frisch: Büsten wurden abgebaut, Straßen umbenannt. Bis heute spürt man den revolutionären Wind einer Szene wie der in Bristol, wo die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel gerissen und im anliegenden Hafen versenkt wurde. Der Kontext, dem diese Bilder entsprangen, war bekanntlich der Aufschrei gegen das geschichtsvergessene Whitewashing.

Anders als in Bristol forciert Kang Sunkoos zweiteilige Arbeit „Statue of Limitations“ nicht den Umsturz, sondern die Errichtung einer Skulptur. Was die Aktionen verbindet: Beide schaffen Bewusstsein für nachwirkende koloniale Strukturen. Beide sind Eingriffe in den öffentlichen Raum. Für Kang Sunkoo ist das nur folgerichtig. Zentrum seiner Arbeit ist die Architektur. Wer zuhört, wie Kang Sunkoo über seine Kunst spricht, merkt: Der Künstler-Architekt denkt plastisch, organisatorisch, räumlich. Und: verblüffend subtil.

Subtil wirkt auch „Statue of Limitations“, und das obwohl jedes seiner zwei Teile elf Meter hoch ist und je um die zwei Tonnen wiegt. Es handelt sich um zwei schwarz patinierte Bronzeplastiken, die zusammen die Form einer Flagge auf Halbmast mimen – ein von seiner nationalen Bedeutung entkoppeltes Symbol für Anteilnahme und Respekt. Die zweigeteilte Fahne ist das Ergebnis einer längeren Auseinandersetzung des Künstlers mit der deutschen Kolonialgeschichte. Der Titel der Arbeit spielt auf den juristischen Terminus der historischen Verjährung von Straftaten an. Genauer, auf den Völkermord an Nama und Herero im heutigen Namibia zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als solcher wurde er von deutscher Seite erst letztes Jahr offiziell anerkannt.

Die aufgestellte Installation „Statue of Limitations“
Die aufgestellte Installation „Statue of Limitations“David von Becker

Zwei symbolträchtige Orte Berliner Stadtgeschichte

Mittig geteilt, verbindet Kang Sunkoos Arbeit zwei symbolträchtige Berliner Orte: einerseits das Humboldt Forum, das im vergangenen Jahr im neu errichteten Berliner Schloss eröffnete. Dort, wo einst der Ost-Berliner Palast der Republik stand, der vielen auch als Mahnmal für die deutsche Teilung galt – sowie für den Weltkrieg, der sie verursacht hat.

In letzter Zeit strengt das Humboldt Forum oberflächliche Bemühungen um einen bewussteren Umgang mit dem durch die außereuropäischen Sammlungen von ihm selbst mit verkörperten kolonialen Erbe an. Dennoch: allein durch seine barocke Fassade und das Kuppelkreuz ist das Museum – in Augen kritischer Stimmen – eine Art Fantasiegebilde des preußischen Revisionismus. Hier setzte Kang Sunkoos Arbeit letztes Jahr an: Der untere Teil des Werks beginnt am Fußboden des Humboldt Forums und reicht bis an die Decke – ganz so, als würde es sie durchstoßen, um anderswo wieder aufzutauchen.

Wenn Kang Sunkoo über seine Kooperation mit dem Museum spricht, betont er, dass die Arbeit nicht ursprünglich von ihm beauftragt, sondern im Rahmen eines öffentlichen Wettbewerbs des Bundes ausgewählt wurde. Und: Dass sich das Humboldt Forum anfangs tatsächlich gegen seinen Entwurf aussprach. In der Aufgabenstellung des Wettbewerbs, unterstreicht Kang Sunkoo, sei die koloniale Vergangenheit an keiner Stelle thematisiert worden. Dass das Humboldt Forum sich inzwischen mit seiner Arbeit schmückt, mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass sich der Wind im Diskurs um koloniales Erbe in der öffentlichen Debatte der letzten zwei Jahre gewendet hat. Dass eine breitere Öffentlichkeit das Ausstellen kolonialer Raubkunst im Humboldt Forum inzwischen als echtes Problem sieht.

Der Sound des kolonialen Erbes

Der zweite Teil von Kang Sunkoos Arbeit steht seit dieser Woche am Nachtigalplatz im sogenannten Afrikanischen Viertel in Wedding. Der Platz ist nach dem deutschen Arzt und „Afrikaforscher“ Gustav Nachtigal benannt. Nachtigal nahm bei der Errichtung der deutschen Kolonien in Togo, Kamerun und dem heutigen Namibia eine Schlüsselrolle ein. Antikoloniale Initiativen setzten sich seit Jahren für die Umbenennung ein. Die Bezirksverordnetenversammlung beschloss 2018, den Platz in Manga-Bell-Platz umzubenennen – benannt nach dem einstigen Widerstandsanführer in der deutschen Kolonie Kamerun. Dies wiederum stößt auf Protest einiger Anwohnender.

Kang Sunkoo hat den Ort nicht zufällig gewählt. „Während des Sitzes der deutschen Kolonialherrschaft im Berliner Schloss sollten im Volkspark Rehberge, unweit des Nachtigalplatzes, Menschen und Tiere aus den afrikanischen Kolonien in Gefangenschaft ausgestellt werden“, sagte er der Berliner Zeitung in der Vorbereitungsphase des Projekts. Nur durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs sei dieser perfide Plan letztlich unterbrochen worden.

Auf dem Platz „durchstößt“ der obere Teil von „Statue of Limitations“, beginnend am gewölbten Fahnenelement, sozusagen den Boden – bis hoch zum spitz zulaufenden Mast. Die Skulptur steht im Zentrum zwischen Afrikanischer Straße, Togostraße und der nach einem der grausamsten deutschen Kolonialherren benannten Petersallee. Es ist eine treffende Ironie: ein auf koloniale Schrecken verweisendes Kunstwerk wird von Straßen trianguliert, deren Sound jenen Schrecken auf unheimliche Weise normalisiert.

Viele Anwohnende sind gegen die Umbenennung

Ich treffe Kang Sunkoo wenige Tage vor der offiziellen Präsentation von „Statue of Limitations“ vor Ort am Noch-Nachtigalplatz. Ein Lastwagen hat die Skuptur aus einer Charlottenburger Gießerei in den Wedding verfrachtet. Sie reicht über die volle Länge des Fahrzeugs. Während ein Baukran sich bereitmacht, das Kunstwerk an die ausgegrabene Stelle zu verlagern, prüft Kang Sunkoo ein letztes Mal die Befestigungspunkte. Und, sobald die Skulptur provisorisch steht, die exakte Sichtachse.

Währenddessen versammeln sich Passierende. Die Irritation, so wirkt es, ist Kang Sunkoo sicher. Eine subtile Irritation, aber doch eine wirksame. Er sei nicht gegen die Aufstellung, sagt ein Anwohner namens Detlef Skrzypczak, der sich gegen die Umbenennung des Nachtigalplatzes einsetzt. Er verstehe allerdings nicht, warum man Kunst nennt, was faktisch ja eine Fahne sei.

Vielleicht könnte man die Irritation dieses Anwohners auch so übersetzen: Wie kann es sein, dass ausgerechnet ein Kunstwerk politisch-historische Ansprüche geltend macht? Wie kann es sein, dass ausgerechnet ein Kunstwerk denselben revolutionären Wind durchströmt, der vor knapp zwei Jahren in Bristol zu spüren war?

Dass Kang Sunkoo es gelingt, derartige Fragen an die Oberfläche zu kitzeln und eine Diskussion über sie zu provozieren, ist die große Leistung seiner Arbeit. Am Nachtigalplatz wurde die Arbeit vorerst für sechs Monate bewilligt. Was im Anschluss mit ihr passiert, ist noch unklar.