Der Journalist Dietmar Schumann hat unter anderem als Moskau-Korrespondent für das DDR-Fernsehen und das ZDF gearbeitet. Während seiner Tätigkeit lernte er auch Wladimir Putin kennen. In der Berliner Zeitung am Wochenende hat Schumann kürzlich einen Text über seine Begegnungen mit Russlands Staatspräsidenten veröffentlicht und dort auch erwähnt, dass er eine ZDF-Dokumentation über Putin produziert hatte, die aber nie gesendet wurde. Nach der Veröffentlichung seines Textes erreichte Schumann eine E-Mail von der Redaktion der ZDF-Fernsehsendung „Markus Lanz“. Die Redaktion lud ihn zur Markus-Lanz-Sendung am 23. März 2022 ein. Nach intensiven Vorbereitungsgesprächen wurde die Einladung aber zurückgezogen, mit der Begründung, das Thema, über das Dietmar Schumann sprechen wolle, sei nicht mehr aktuell. Wir haben Dietmar Schumann in seinem Heim in Schöneiche bei Berlin getroffen und ihm die Fragen gestellt, die vielleicht Markus Lanz hätte stellen wollen.

Berliner Zeitung am Wochenende: Herr Schumann, Sie haben einmal in einem Gespräch erwähnt, dass viele Journalisten jahrelang vor Putin gewarnt haben, aber dass diese Warnungen nicht ernst genommen wurden. Was meinen Sie damit?
Dietmar Schumann: Wir haben gewarnt vor Putins Charaktereigenschaften. Das heißt: Ein Menschenleben zählt nichts, große Brutalität und ein sehr aggressives Verhalten nach innen und nach außen. Sein Streben nach Alleinherrschaft. Das war schon relativ zeitig feststellbar. Wir haben auch davor gewarnt, dass er ein brutaler Machtmensch ist, der Kriege führt, nach innen und nach außen, um seine Macht im Inneren zu konsolidieren und nach außen hin eine aggressive Politik zu führen. Wir haben von Oppositionspolitikern in Russland erfahren, dass er nach einer Neuaufteilung der Einflusssphären strebt. Darauf habe ich hingewiesen, rechtzeitig schon. Das haben wir auch deutschen Politikern mitgeteilt, wenn sie Moskau besucht haben. Wir haben das veröffentlicht. In der ARD, im ZDF, in verschiedenen deutschen Zeitungen. Aber das ist nicht so richtig zur Kenntnis genommen worden oder das große Geschäft war wichtiger für die deutschen Großkonzerne, als sich mit den Charaktereigenschaften und politischen Ambitionen eines einzelnen Menschen zu beschäftigen.
Lesen Sie hier Dietmar Schumanns Erinnerungen an Wladimir Putin
Sie sind Putin begegnet. Da haben Sie die Schattenseiten, seine Ausbrüche wahrgenommen. Können Sie nochmal beschreiben, wie er auf Sie wirkte?
Freunde in Petersburg haben uns schon Mitte der 1990er-Jahren vor ihm gewarnt. Da wurde gesagt: Das ist ein KGB-Mann, seid vorsichtig. Er hat drei Dinge gelernt: täuschen, tarnen, lügen. Jeden Tag praktiziert er das. Als er KGB-Chef wurde und später Ministerpräsident, haben wir das nachvollziehen können, dass das tatsächlich so ist. Wir haben ihn erlebt, kurz nachdem das Atom-U-Boot Kursk gesunken war, wie er die Angehörigen der ertrunkenen Matrosen belogen hat. Er hat ihnen nämlich erzählt, er hätte ausländische Hilfe herbeigerufen, die sei aber nicht gekommen. In Wirklichkeit war es genau umgekehrt. Er hat ausländische Hilfe, die angeboten war, abgelehnt. Also: Lüge. Seine erste große Aktion in Russland basierte auf einer Lüge. Das fand ich schon schlimm. Und die Leute, die ihn gefragt haben, warum er sich nicht um die Rettung dieser Matrosen gekümmert hat, sondern lieber Urlaub am Schwarzen Meer gemacht hat, die hat er in einer pejorativen Sprache im Petersburger Gassenjargon einfach beleidigt. Das ist ein Mann, der, wenn er kritische Fragen gestellt bekommt oder ihm irgendetwas nicht passt, sehr schnell aus dieser überheblich souveränen Haltung ihm gegenüber umspringt in eine Petersburger Gossensprache. Also er verliert sehr schnell die Contenance. Das waren wir von Politikern so nicht gewohnt. Auch wenn ihnen etwas nicht passte, haben sie den Schein wenigstens gewahrt. Bei Putin ist das anders. Aus ihm bricht es dann heraus. Er wird brutal, auch in seiner Sprache.
Ist er ein narzisstischer Despot?
Viele kleine Menschen sind narzisstische Despoten. Schauen Sie sich Napoleon an. Als Putin an die Macht kam, hat er geschaut, dass die Menschen um ihn herum, wie etwa Dmitri Medwedew, die haben zwischendrin ja mal die Rollen getauscht, noch einen Zentimeter kleiner ist. Er mag nicht zu Leuten hochschauen. Er mag nicht, wenn er wie ein Schuljunge behandelt wird, wie das etwa George Bush gemacht hat in der ersten Begegnung mit ihm in Slowenien. Das mag er überhaupt nicht. Er will gleichberechtigt, auf Augenhöhe mit allen führenden Politikern dieser Welt stehen und auch so behandelt werden. Er fühlte sich von den Amerikanern, von Obama zum Beispiel, immer in die Ecke gedrängt und herabwürdigend behandelt. Das versucht er zurückzuspielen. Ich denke, er ist ein Narzisst. Ich weiß auch, dass er sehr emotional reagiert. Er ist sehr schnell aus der Fassung zu bringen. Das heißt, man weiß nie, welchen nächsten Schritt er plant. Diese freundliche Schale, die er bietet, schlägt in Aggression und Brutalität um.
Sie haben noch einen Satz gesagt: Putin respektiert nur Stärke. Wie meinen Sie das?
Er hat über Jahre versucht, die europäische Union zu spalten. Das ist ihm in wesentlichen Teilen gelungen. Die Europäer sprechen nicht mit einer Sprache, in vielen Dingen nicht. Das ist in großen Teilen auf den Einfluss aus Russland zurückzuführen. Seine Propagandamaschine hat sich in den letzten 20 Jahren perfektioniert. Nach innen wie nach außen. Bis heute läuft RT Deutsch, die deutsche Regierung duldet bis heute ein Putin-Propaganda-Instrument rund um die Uhr mitten in Deutschland. Er versucht, die Europäer zu spalten, mit riesigem Erfolg. Und das deutet er als Schwäche. Wenn jemand eine Partei hat wie die Europäische Union, und die spricht nicht mit einer Stimme, sondern 26, 27 Einzelstimmen, dann ist das für Putin Schwäche. Wenn jemand ihn nur umschmeichelt und tätschelt und alle seine Dinge, die er tut, ob er Krieg führt oder die Opposition verbieten lässt oder in den Knast stecken lässt, ob er Memorial verbieten lässt oder nicht – wir nehmen das alles hin. Mehr oder weniger. Mit so einem lauen Protest. Das ist für ihn Schwäche. Er liebt die Starken. Wenn man mit den Russen zu tun hat, muss man auch mal die Faust aus der Tasche nehmen: Bis hierher, mein lieber Freund, und nicht näher. Wenn du Memorial verbieten lässt, die letzte Menschenrechtsorganisation in Russland, oder leugnest, dass unter Stalin massenhaft Verbrechen in Russland geschehen sind, dann können wir dich als Dialogpartner nicht mehr haben. Dann fahre bitte nach Hause. Oder wenn du denkst, dass du mitten in Berlin Propaganda für dich machen und hier eine Propagandazentrale unterhalten musst, dann müssen wir dich verbieten, weil das jeden Tag Volksverhetzung ist. Das machen wir aber nicht. Das deutet er als Schwäche. Auf diesem Klavier spielt er virtuos. Er ist ein Spieler, er nutzt ihre Schwäche aus. Wie beim Schachspiel. Einmal nicht aufgepasst, Schachmatt.
Europäer haben Angst, dass Putin zu allem bereit ist. Wie weit kann er gehen?
Ganz schwierig. Viele Politikwissenschaftler und Politiker, denke ich, haben überhaupt keinen Zugang mehr zu Putin und wir haben ihn auch nicht. Unsere Politiker werden schmählich behandelt. Oder mit irgendwelchen Allgemeinplätzen abgespeist. Wir, die wir hier in Deutschland sitzen, wissen auch nicht, wie er agieren wird. Wir können es nur ahnen. Wir können nur hoffen, dass er nicht zum Allerschlimmsten greift, zur Atombombe. Wir wissen nicht, wie er reagieren wird. Ich weiß es auch nicht. Aber ich verstehe die Ängste, die man hat. Die man in Polen oder im Baltikum hat, also dass er den Krieg über die Grenzen tragen könnte. Und ich bin mir nicht ganz sicher, was es heißen würde, wenn man eine Flugverbotszone einrichtet oder wenn Nato-Truppen involviert werden würden auf irgendeine Weise in diesen Krieg. Auf der einen Seite weiß ich, dass er das als die Faust des Westens verstehen würde. Und er würde sicherlich reagieren. Aber ich weiß nicht, wie. Das ist das Problem.
Also: Sie trauen ihm alles zu?
Ich traue ihm alles zu. Ja. Leider. Muss ich sagen.
Vielen Dank für das Gespräch.

