Berlin-Ein Abend im September in Berlin-Mitte. Ich bin verabredet, stehe an der Ampel, warte auf Grün. Ein Wagen mit verdunkelten Scheiben hält neben mir. Ein Mann, mit wenig Flaum über der Oberlippe, kurbelt die Scheibe runter. Er grinst und sagt: „Dir würde ich gern mal die Möse rasieren.“
Es tut mir leid, wenn diese Sprache jetzt etwas viel ist für einen sommerlichen Morgen, für einen Frühstückstisch, für Kaffee mit Schaum. Aber ich kann versichern, dass es mir genauso ging. Und bevor Sie fragen: Keine Ahnung, ob ich Kleid, Rock oder Hose trug – oder wie meine Haare gebunden waren. Lippenstift? Mit Sicherheit. Es ist aber für den Rest dieses Textes nicht wichtig.

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Die Ampel wird grün, der Typ fährt davon. Fassungslos gehe ich weiter, überquere die nächste Ampel sicherheitshalber schnell bei Rot. Ich bin baff und bin es heute noch. Der Typ im Wagen dagegen war in Gedanken sicher längst woanders, und in mir beginnt es an diesem Tag einmal mehr zu arbeiten, was verdammt noch mal ihn dazu berechtigt. War es patriarchale Arroganz? Und bis heute frage ich mich, was ich alles hätte antworten können:
Ist das überhaupt deine Karre?
Ja gerne, zu mir oder zu dir?
Zu wenig Testosteron für einen Vollbart, aber schon sexualisierte Belästigung drauf, na bravo!
Sogenanntes Catcalling – verbale Belästigung auf der Straße – ist die alltäglichste Form der Belästigung. Männer pfeifen Frauen hinterher. Schnalzen, rufen, kommentieren Hintern, Brüste, Beine, Augen, Haare. Am Kudamm, vorm Späti, in der Tram. Gewalt gegen Frauen beginnt immer mit Worten, nie mit Taten. Catcalling ist wie eine mächtige Einstiegsdroge, auch, weil die soziale Kontrolle fehlt, rechtsstaatlich legitimiert. Es ist auf deutschen Straßen legal.
Jede Frau kennt in Berlin lüsterne Blicke auf der Straße, Belästigung; statistisch jede zweite Frau in Deutschland trifft es irgendwann, zwei von drei Frauen unter 35 Jahren haben sexualisierte Übergriffe bereits erlebt. Belästigende Männer werden dennoch – fast euphemistisch – Catcaller genannt, obwohl sie sich eher wie Tiere in ständiger Balzzeit benehmen. Sie pfeifen mir hinterher wie einer streunenden Hündin. Dabei suche ich gar kein Herrchen.
Als die U-Bahnen noch rappelvoll waren, spürte ich jede Menge fremde Glieder an mir. Arme, die mir über meinen Rücken fuhren, Penisse am Hintern, Hände, die streichelten, mich zwickten, kniffen. Das ist doch meine Haut, die gehört mir. Durch Covid-19 wurden die Bahnen leerer, niemand fasste mich mehr ohne mein Einverständnis an. Doch das Befreiungsgefühl wich schnell einer Angst, die ich sonst nur von leeren Straßenecken kannte. Wohin, wenn der einzige andere Fahrgast im Wagon aufdringlich wird? Oder wenn er zu mir kommt und mir ein Kompliment macht, das niemals eins ist?
Der öffentliche Raum für Frauen und als weiblich gelesene Personen ist oft erbarmungslos. Vergewaltigung, Nötigung, Belästigung – solche Straftaten sind im Pandemiejahr auf ein Rekordhoch gewachsen, obwohl oder weil abends kaum noch jemand unterwegs war. 95 Prozent der Tatverdächtigen sind Männer, fast jeder vierte jünger als 21 Jahre.
Als 19-Jährige zog ich nach Berlin. Hat die Stadt mich traumatisiert? Meine Mobilität ist eingeschränkt, ich meide bestimmte Orte, kontrolliere meine Umgebung. Meine Freundinnen haben Warnmelder an Schlüsselbunden, teilen für den Heimweg ihre Standorte, machen Selbstverteidigungskurse. Wir alle rüsten uns für die Straßen der Hauptstadt. Es ist Teil unserer Normalität, obwohl es nicht normal ist. „Melde dich, wenn du zu Hause bist“, sagen wir zum Abschied. Keine Floskel. Berlin ist einzigartig, aber hier nichts Besonderes. Diese Normalität gehörte auch in den Geburtsorten schon zum Alltag.
Fast schon unterhaltsam, aber nicht weniger übergriffig sind dagegen die Männer, die mich – ganz „alte Schule“ – darauf hinweisen, dass ich lächelnd einfach sehr viel schöner sei. Gern würde ich ihnen sagen, dass mir die Bedürfnisbefriedigung wildfremder Männer kein hohes Anliegen ist, dass die patriarchale Sozialisierung mich da nicht ausreichend auf Linie getrimmt hat. Dass das System zu bröckeln beginnt. Ein Vorteil des sonst so unliebsamen Alterns: Ich kenne meine Vorzüge. Mit einem Ausdruck unverhohlener Ablehnung kommen die vorher noch so feinsinnig Lobenden aber nicht klar. Mit einer Missachtung ihrer Regeln der Straße noch viel weniger. Was sie eben noch loben wollten, wird plötzlich mit „dumme Schlampe“ gerügt.
Ein fiktiver Freund hat mehr Macht als ich
Je länger die Nacht, desto intensiver die Angebote. Auf formlose Kopulationseinladungen im Berliner Nachtleben reagiere ich, je nach Bittsteller, eher abweisend. Das reicht nicht immer aus. In einem Club in Mitte wurde mir mal eine halbe Stunde sehr bildlich erklärt, was ich alles verpassen würde, erst nach einer animalischen Nacht mit diesem tollen Hecht vor mir wäre ich „auch sanftmütiger“. Ich sei, so die Vermutung, wohl „lange nicht mehr richtig rangenommen worden“, und weiter: Er wolle behilflich sein, mich mal (sorry!) „durchzubumsen“. Es wurde zunehmend unentspannter: Mein Nein wurde nicht akzeptiert. Erst, als ich von meinem fiktiven Freund erzählte, der zu Hause auf mich warten würde, ließ er ab. Entschuldigte sich. Der ausgedachte Konkurrent zu Hause verschreckte ihn, nicht ich. Trotz übergriffiger Begattungsversuche das eigentlich Gruselige an diesem Abend: Ein fiktiver Mann hat mehr Macht als ich.
Auch übervolle Bahnen schützen nicht vor Übergriffen. Einst brachte mich ein ausgelasteter Regionalzug aus meiner Geburtsstadt zurück nach Berlin. Der beleibte Mitfahrer neben mir klappte die Armlehne hoch, brauchte wohl Platz. Wenig später rieb sein Bein an meinem, ich quetschte mich an die Scheibe. Er hörte nicht auf. Unter dem Schutz seiner Jacke begann er zu masturbieren. Der Zug raste durch Pankow-Heinersdorf, das hastige Atmen neben mir verstummte. Ich starrte noch immer regungslos aus dem Fenster.
Erst viele Jahre später wich diese schambehaftete Ohnmacht von damals einer mächtigen Wut. Wie kaputt ist unsere Gesellschaft, wenn für Einwohnerinnen dieser Stadt Belästigungen zur Normalität werden? Wo ist diese „Law and Order“-Mentalität, von der Konservative und Rechtspopulisten sonst immer bis zur Besinnungslosigkeit schwärmen? Das Patriarchat canceln? Die privilegierten Männer wolle man lieber nicht bedrohen. Im Glashaus obendrein nicht mit Steinen werfen.
Wie geil mein Hintern ist, bestimme immer noch ich
Manchmal befürchte ich, dass mich in dieser Stadt nichts mehr überraschen kann. Zu viel habe ich erlebt, gehört. Bei meinem Studentinnenjob stöhnte mir eine Zeitlang regelmäßig ein Unbekannter in den Telefonhörer, erzählte mir später, was ich gestern anhatte, machte mir klar, dass er mich beobachtete. Freundinnen werden beim Ebay-Verkauf ständig nach getragener Unterwäsche und dreckigen Socken gefragt. Eine andere erzählte von einem Stalker. Bei einem Praktikum zeigte ein Leser seinen ganzen Hass, forderte öffentlich meine Gruppenvergewaltigung. Hundepfiffe von der Spätitruppe erwähnen Frauen nicht mal mehr. Und dennoch: Auch sie schockieren, sollen uns an unseren Platz verweisen. Stumm schalten. Oder: einen Maulkorb verpassen.
Männer schaffen Machtverhältnisse, unter denen Frauen leiden, auch im toleranten Berlin. Toleriert werden hier Übergriffe und Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum, auf der Straße. Auch verbale Belästigung ist Gewalt, sie erniedrigt und objektifiziert. Ob mein Hintern geil ist oder nicht, bestimmt nicht die Gruppe vorm Späti. Sondern ich allein.
Natürlich schnalzen, grabschen und masturbieren nicht alle Männer ungefragt neben mir. Aber in zwölf Jahren Berlin gab es noch keinen Mann, der öffentlich protestiert, der diese Hunde zurückgepfiffen hat. Oder denken sie wirklich, wir sind Hündinnen, die an- und zurückgepfiffen werden müssen? Wollen nur spielen und so. Schon klar.


