Die Tendenz ist schon länger da, und sie bleibt stabil: Bereits im März, kurz nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs, kostete Gas im Großhandel in der EU zehnmal so viel wie in den USA, etwa 160 Euro pro Megawattstunde. Auch heute ist es nicht viel besser auf dem Spotmarkt: Eine Megawattstunde kostet am 15. Juli etwa 173 Euro pro gegen umgerechnet 22 Euro in den USA.
Zum Vergleich: Am 18. Februar wurde eine Megawattstunde an der Börse in den Niederlanden noch für 73 Euro verkauft, ganz zu schweigen von 48 Euro am 1. September 2021, bevor die Gaspreise generell durch die Decke gegangen sind. Was ist das für eine Entwicklung?
„Es sind unterschiedliche Faktoren, die auf einmal zuschlagen“, erklärt der Entwicklungsexperte und Verantwortliche für Energie und Klima im SPD-Wirtschaftsforum, Dr. Patrick Kaczmarczyk (31), der Berliner Zeitung. „In Europa herrscht generelle Unsicherheit über die Gasversorgung, verstärkt wegen der realen Knappheiten und der Wartungsarbeiten an Nord Stream 1. Der Verfall des Euro und Streiks der norwegischen Gasarbeiter für bessere Löhne beunruhigen den europäischen Gasmarkt zusätzlich und erhöhen neben den Gaspreisen auch die Volatilität, also die Marktschwankungen.“ Die USA seien dagegen anders als die EU Netto-Exporteur von Gas mit einer entwickelten LNG-Infrastruktur und in diesem Sinne autark, also wirtschaftlich unabhängig.
Langfristige Verträge werden langsam verdrängt
Die Lage auf den Spotmärkten wird aktuell allerdings auch von Spekulanten angeheizt, die auf einen kompletten Gasstopp aus Russland nach der Nord-Stream 1-Wartung setzen. Die Marktspieler würden gerade alle auf „bullish“ stehen, in tierischer Erwartung auf weiter steigende Preise, kommentiert Kaczmarczyk weiter. Dazu kommt allerdings, dass Europa bei der Gasbeschaffung jetzt verstärkt auf den Spotmarkt angewiesen ist. Vor dem Ukraine-Krieg hatte vor allem Deutschland noch von langfristigen Verträgen mit Gazprom mit festgelegten niedrigeren Preisen profitiert. Jetzt laufen diese Verträge allmählich ab und werden nicht verlängert.
„Die US-Gasexporteure profitieren allerdings vom Ukraine-Krieg“, gibt Kaczmarczyk zu. Sie konnten zuletzt gerade wegen der ausbleibenden russischen Liefermengen zum ersten Mal mehr Flüssiggas nach Europa liefern als der russische Staatskonzern Gazprom Pipeline-Gas. Noch im Oktober 2021 kamen in der EU laut der Internationalen Energieagentur rund zwei Milliarden Kubikmeter Flüssiggas aus den USA an – im Juni aber schon rund 4,4 Milliarden Kubikmeter.
#Zeitenwende wie sie ist. Russlands jüngste Drosselung der Erdgaslieferungen in die EU hat dazu geführt, dass die USA zum ersten Mal mehr #LNG nach Europa geliefert haben, als #Gazprom Pipeline-Gas, schreibt der Chef der International Energy Agency. https://t.co/XxbYHYTap6
— Liudmila Kotlyarova (@mila_cotle) July 1, 2022
„Die USA haben keinen Krieg auf ihrem Kontinent, aber …“
Kaczmarczyk glaubt jedoch nicht, dass das Land generell davon profitiert. Die Ölpreise in den USA seien zwar auch niedriger als in Europa, weil die Energiesteuern insgesamt niedriger seien. Die Amerikaner hätten auch keinen Krieg und keine dramatische Flüchtlingssituation auf ihrem Kontinent. Aber sie fürchteten genauso die Rezession und hätten ein riesiges Wettbewerbsproblem wegen des starken US-Dollars.

