Europa

Verhandeln die USA und Russland bereits heimlich über die Ukraine?

Washington und Moskau haben ein erstes geheimes Abtasten über ein Ende des Ukraine-Krieges hinter sich. Das Misstrauen ist groß.

Der Kreml in Moskau in der Abenddämmerung.
Der Kreml in Moskau in der Abenddämmerung.AFP

Offenbar laufen seit einiger Zeit geheime diplomatische Gespräche zwischen ehemaligen hochrangigen amerikanischen Sicherheitsbeamten und hochrangigen Mitgliedern des Kremls. Das bestätigte ein ehemaliger amerikanischer Beamter, der direkt an den Gesprächen beteiligt war, der Moscow Times.

Anfang Juli berichtete NBC erstmals von sogenannten „Back-Channel-Gesprächen“ zwischen den USA und Russland. Ehemalige amerikanische Beamte haben demnach einen diskreten Austausch mit dem Kreml begonnen, um den Grundstein für Verhandlungen zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine zu legen. Die Amerikaner sollen laut NBC geheime Gespräche mit prominenten Russen geführt haben, von denen angenommen wird, dass sie dem Kreml nahe stehen. NBC gibt an, mit einem halben Dutzend Personen gesprochen zu haben, die von den Gesprächen wüssten.

Doch nicht nur auf informeller Ebene wurde gesprochen: Im April gab es in New York ein mehrstündiges, geheimes Treffen der Gruppe mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow. NBC über den Inhalt des Treffens: „Auf der Tagesordnung standen einige der heikelsten Themen des Krieges in der Ukraine, wie das Schicksal der von Russland gehaltenen Gebiete, die die Ukraine möglicherweise nie befreien kann, und die Suche nach einem gesichtswahrenden diplomatischen Ausweg, der für beide Seiten erträglich sein könnte.“ Mit Lawrow sprachen Lawrow Richard Haass, ehemaliger Diplomat und scheidender Präsident des Council on Foreign Relations, der Europa-Experte Charles Kupchan und der Russland-Experte Thomas Graham, beides ehemalige Beamte des Weißen Hauses und des Außenministeriums und Fellows des Council on Foreign Relations. Haass und Kupchan hatten im April einen Artikel in Foreign Affairs veröffentlicht mit dem Titel: „Der Westen braucht eine neue Strategie in der Ukraine. Ein Plan, um vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch zu gelangen“. Die Gespräche fanden mit Wissen der Biden-Regierung, aber nicht auf deren Anweisung statt. Die ehemaligen Beamten, die am Lawrow-Treffen beteiligt waren, informierten anschließend den Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses.

Die Moscow Times hat nun Informationen über Charakter und Inhalt der Gespräche zwischen den Abordnungen aus Washington und Moskau erhalten: Ein ehemaliger amerikanischer Beamter sagte der Zeitung, die von einer in den Niederlanden ansässigen Stiftung betrieben wird, die Treffen von Amerikanern und Russen fänden „mindestens zweimal im Monat statt, oft im Online-Format“. Er sagte: „Ich habe Moskau mindestens alle drei Monate besucht“ und dass diese Art der Geheimdiplomatie notwendig sei, wenn es keine offiziellen Kommunikationskanäle mehr gäbe. Offiziell verbreitet die amerikanische Regierung die Version, dass es keine „Back-Channel-Kanäle“ gäbe. So twitterte der amtierende Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, Adam Hodge, am Donnerstag. „Wenn wir nichts über die Ukraine ohne die Ukraine sagen, dann meinen wir es ernst.“

Doch die geheimen Gespräche seien auch im Interesse der Ukraine, argumentiert Trita Parsi, der schwedisch-iranische Leiter des amerikanischen Quincy Instituts, der sich in einem Buch mit der erfolgreichen Geheimdiplomatie von Präsident Barack Obama mit dem Iran befasst hatte. Solche Gespräche seien keine Verhandlungen, die schon in Richtung einer Friedenslösung gingen. Die Verhandler haben kein Mandat und können nichts entscheiden. Sie können jedoch erfahren, wo der Feind gedanklich steht – und dies sei auch von immensem Wert für die Ukraine, „insbesondere weil die Ukrainer derzeit selbst nicht in der Lage sind, solche Gespräche zu führen“.

Auch der US-Gesprächspartner der Moscow Times sieht die geheimen Verhandlungen nicht gegen die Ukraine gerichtet. Er sagte: „Das bedeutet nicht, dass wir die Ukraine oder Europa im Stich lassen. Vielmehr wollen wir Wege finden, die Unabhängigkeit der Ukraine zu garantieren und gleichzeitig Russland wieder zu einem kreativeren Akteur in der europäischen Sicherheit zu machen.“ Er betonte, dass Russland und die Ukraine früher oder später, egal wie viel Arbeit die USA jetzt leisten würden, gemeinsam an den Verhandlungstisch setzen werden müssen.

Allerdings sind die Amerikaner laut Moscow Times noch nicht besonders erfolgreich in der Erkundung des russischen Willens. Der ehemalige amerikanische Offizielle, der hochrangigen Beamten und Beratern des Kremls gegenübersaß, sagte dem Blatt: Das größte Problem bestehe darin, dass die Russen nicht in der Lage seien, genau zu artikulieren, was sie wollten und brauchten: „Sie wissen nicht, wie man Sieg oder Niederlage definiert. Tatsächlich hatten einige der Eliten, mit denen wir sprachen, den Krieg überhaupt nicht gewollt und sagten sogar, es sei ein völliger Fehler gewesen. Aber jetzt befinden sie sich im Krieg – eine demütigende Niederlage zu erleiden ist für diese Leute keine Option.“ Die amerikanischen Vertreter hätten „deutlich gemacht, dass die USA bereit sind, konstruktiv mit den Belangen der nationalen Sicherheit Russlands zusammenzuarbeiten“. Er wich damit laut Moscow Times deutlich von der offiziellen Linie der USA ab. Diese wolle Russland finanziell unter Druck setzen und es international isolieren, um dem Land die Fähigkeit zu nehmen, den Krieg in der Ukraine zu beenden.

Tatsächlich ist die Lage für Russland alles andere als erfreulich: Nach Angaben der russischen Zentralbank wurden seit Beginn der umfassenden Invasion der Ukraine im Jahr 2022 rekordverdächtige 253 Milliarden US-Dollar aus Russland abgezogen - eine massive Kapitalflucht.

Der Beamte: „Ein Versuch, Russland zu isolieren und bis zur Demütigung oder zum Zusammenbruch zu lähmen, würde Verhandlungen nahezu unmöglich machen – wir sehen dies bereits an der Zurückhaltung der Moskauer Beamten.“ Stattdessen hätten die Amerikaner betont, „dass die USA Russland brauchen und auch weiterhin brauchen werden, das stark genug ist, um an seiner Peripherie Stabilität zu schaffen“. Die USA wollten „ein Russland mit strategischer Autonomie, damit die USA ihre diplomatischen Möglichkeiten in Zentralasien fördern können“. Die USA müssten „erkennen, dass ein totaler Sieg in Europa unseren Interessen in anderen Teilen der Welt schaden könnte“. Ein starkes Russland sei „nicht unbedingt eine schlechte Sache“.

Während der Gespräche sei allerdings deutlich geworden, dass die Chancen der Ukraine, ihre besetzten Gebiete zurückzugewinnen, äußerst gering seien. Dies betreffe vor allem die Krim. „Wenn Russland glauben würde, es könnte die Krim verlieren“, so der ehemalige Beamte, „würde es mit ziemlicher Sicherheit auf den Einsatz taktischer Atomwaffen zurückgreifen.“

Washington soll daher angeboten haben, bei der Durchführung fairer Referenden in den von Russland besetzten Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja zu helfen, bei denen die Bewohner darüber abstimmen würden, ob sie Teil der Ukraine oder Russlands sein wollen.

Russland lehnte dieses Angebot jedoch ab und sagte, die Gebiete im September 2022 nach Volksabstimmungen annektiert zu haben, die jedoch international nicht anerkannt werden.

Der ehemalige Beamte äußerte jedoch das Gefühl, dass die laufenden Geheimgespräche in einer Sackgasse stecken. Dies zeigt sich auch an fehlenden „kleinen Schritten“, die während solcher Geheim-Gespräche bei internationalen Konflikten eigentlich als Zeichen des guten Willens in humanitären Fragen üblich sind: So ist es den Amerikanern nicht gelungen, Evan Gershkovich, einen wegen Spionage-Vorwürfen verhafteten Reporter des Wall Street Journal, freizubekommen. Er sitzt seit über hundert Tagen in russischer Gefangenschaft: „Die Fronten zwischen den Regierungen sind verhärtet“, sagt einer, der die Bemühungen um Gershkovichs Freilassung kennt: „Es gibt ein hartes Njet der Russen.“

Die Amerikaner sehen ein grundsätzliches Problem bei ihren russischen Kollegen, so der Informant der Moscow Times: „In der russischen Diplomatie ist jetzt alles miteinander verbunden, alles dreht sich um den Schauplatz des Krieges, was es unmöglich macht, produktive Formen der Diplomatie zu betreiben.“ Das Problem liege weniger bei der russischen Elite insgesamt als vielmehr bei Präsident Wladimir Putin im Besonderen, erklärte er. „Putin ist das größte Hindernis für jeden Fortschritt“, sagte er. „Die US-Regierung hat mindestens einen Versuch unternommen, mit dem Kreml zu sprechen, aber Putin selbst lehnte ab.“

Aus diesem Grund, so argumentierte er, „sollte Washington damit beginnen, auf die russische Kriegsgegner-Elite zuzugehen und gemeinsam mit ihnen Fortschritte zu machen.“ Wenn es in der Elite Unterstützung für einen anderen Führer gäbe, „wäre es nicht unmöglich, Putin zu stürzen“, sagte er.