Die-Partei-Chef

Martin Sonneborn: Von der Leyen hat die EU der Ukraine immer ähnlicher gemacht

Martin Sonneborn und Claudia Latour über Korruption in Brüssel und Kiew und warum manches ganz anders ist, als es scheint.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schüttelt dem Leiter des Präsidialamtes der Ukraine, Andrij Jermak, während einer Präsentation im Mariinski-Palast am 15. September 2022 in Kiew die Hand.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schüttelt dem Leiter des Präsidialamtes der Ukraine, Andrij Jermak, während einer Präsentation im Mariinski-Palast am 15. September 2022 in Kiew die Hand.Sarsenov Daniiar/Ukraine Preside/IMAGO

Am Montag wurde die frühere EU-Außenbeautragte Federica Mogherini verhaftet. Sie ist am Donnerstag von ihrem Job am Collège d’Europe zurückgetreten. Wie im Fall des Selenskyj-Beraters Jermak – er trat zurück und verschwand an der Front – fragt man sich: Ist das nur die Spitze des Eisbergs? Arbeiten die Korruptionsermittler einfach nur gut und unerschrocken? Oder ist das Ganze nur ein großes Theater – in dem das Unbehagen der Leute adressiert werden soll und gleich Lösungen präsentiert werden? Wir sprachen mit dem Chef der Partei Die Partei, dem EU-Parlamentarier Martin Sonneborn, und seiner Beraterin Claudia Latour.

Hat Sie die Verhaftung von Frau Mogherini überrascht?

Ja. Pikanterweise war Mogherini im „Ehrenvorstand“ (honorary board) von Fight Impunity, jener von Ex-MEP Pier Antonio Panzeri gegründeten NGO im Zentrum von „Katargate“, über die Gelder und Geschenke aus Katar und Marokko an Abgeordnete und Assistenten des Europäischen Parlaments geflossen sind. Man könnte Mogherini daher eine gewisse Nähe zu Seilschaften unterstellen, die es mit den „europäischen Werten“ nicht ganz so ernst meinen wie sie selbst – und Frau von der Leyen ;-) .

Hat Sie der Zeitpunkt überrascht?

Ja. Die EU ist ja gerade ganz groß ins korruptionsaffine Rüstungsgeschäft eingestiegen, nachdem sie über Jahre dreistellige Milliardenbeträge in ein Land geschaufelt hat, das erwiesenermaßen eines der korruptesten der Erde ist. Für die EU kommt der Korruptionsskandal im eigenen Haus also etwas ungelegen.

Die Initiative kam von der EPPO. Was ist da los?

Aufgabe der EPPO wäre es gewesen, die mutmaßliche Korruption im Zusammenhang mit der Impfstoffbeschaffung und die dazugehörige SMS-Affäre um von der Leyen voranzutreiben. Außer einer lapidaren Presse-Kurzmitteilung (10/2022) hat die EPPO allerdings nicht das Geringste vorgelegt. Im kommenden Jahr läuft das Mandat von EPPO-Chefin Laura Kövesi aus, hinter den Kulissen ist das Geschacher um ihre Nachfolge bereits in vollem Gange. Und Kövesis Bilanz ist in diesem Jahr eher so mittel: je ein Bürgermeister aus Rumänien und Italien, ein tschechischer Krankenhausdirektor, Zollbeamte aus Malta. Ein etwas spektakulärerer Fang kommt da nicht ungelegen.

Welche Rolle spielen die Belgier – die den Russen ihr Geld nicht stehlen wollen?

Belgien ist ein kleines Land mit einer überschaubaren Zahl an Entscheidungsträgern: Jeder kennt hier jeden. Die belgische Justiz ist für ihre Strenge berüchtigt und beschäftigt einige hervorragende Untersuchungsrichter, aber Interferenzen zwischen Politik und Justiz kann man in Brüssel nie ganz ausschließen: Dafür hat nicht zuletzt der langjährige Minister und ehemalige EU-Justizkommissar Didier Reynders die Standards gesetzt, der dem Vernehmen nach in das Verschwinden des – damals von Euroclear gehaltenen – libyschen Staatsvermögens ebenso involviert war wie in die dreckigen Geschäfte seines mittlerweile verurteilten Duzfreundes Nicolas Sarkozy, dem er bei der Finalisierung eines monumentalen Rüstungsgeschäfts mit dem kasachischen Potentaten Nursultan Nasarbajew zu Diensten und behilflich war. Von Betrügereien beim Bau der belgischen Botschaft im Kongo und Geldwäsche durch Kunsthandel einmal abgesehen. Gegen „Teflon-Didier“ wird von den belgischen Behörden derzeit wegen des Verdachts der Geldwäsche ermittelt.

Wer profitiert von der Razzia und der Verhaftung?

Die EU jedenfalls nicht.

Handelt es sich um einen bedauerlichen Einzelfall?

Kaum. In einigen Etagen der Brüsseler Institutionen, vor allem in den höheren, kann man inzwischen von der Existenz nahezu burschenschaftlicher Netzwerke ausgehen, die um politische oder nationale Familien herum entstanden sind. Und da gilt – allen akribisch als „Verhaltensregeln für EU-Beamte“ kodifizierten Regularien zum Trotz – am Ende eben doch: eine Hand wäscht die andere.

Freunde werden auf gut dotierte Versorgungsposten geschoben, die auf Steuerzahlerkosten notfalls auch neu geschaffen werden: So etwa der für den in Katargate involvierten griechischen Ex-Kommissar Avramopoulos (EVP) geschaffene (überflüssige) Posten eines „Sonderbeauftragten für die Golfregion“, der nach Bekanntwerden des Korruptionsskandals an Ex-MEP Di Maio ging. Oder der (überflüssige) Posten eines „Direktors für Wissenschaft, Forschung und Voraussicht“, auf den EVP-Chef Manfred Weber seinen Freund, strategischen Einflüsterer und Ex-Sprecher Udo Zolleis zu setzen gedenkt (Monatsgehalt: mind. 18.000 €). Geschaffen wurde der Posten für Webers Freund übrigens von EP-Generalsekretär Allessandro Chiocchetti, dessen Ernennung selbst mit der Schaffung von Posten verbunden war: Parlamentspräsidentin Roberta Metsola schuf zwei hohe Parlamentsstellen (für Linke und Liberale), um deren Stimmen für die „Wahl“ ihres Kabinettschefs und Wunschkandidaten Chiocchetti sicherzustellen. Oder schließlich Frau von der Leyen selbst, die für ihren langjährigen PR-Berater Jens Flosdorff, den sie auf regulärem Weg nicht einstellen konnte, da er die für EU-Beamte vorgeschriebenen Qualifikationen nicht besaß, kurzerhand eine eigene Stelle schuf – mit höchstmöglichem Dienst- und Entlohnungsgrad, versteht sich.

Auch Mogherini hat ihren Rektorinnenposten in Brügge auf keine andere Art bekommen. Weder erfüllte sie das offizielle Qualifikationsprofil noch hatte sie sich an geltende Vorschriften gehalten: Ihre „Bewerbung“, obwohl diese schriftlich verlangt wird, hatte sie durch Zuruf eingereicht – und zwar Monate nach Ablauf der Bewerbungsfrist. Dass sie die Stelle dennoch mühelos erhalten hat, geht letztlich auf die Fürsprache und Unterstützung von der Leyens und das Einverständnis von Herman Van Rompuy zurück, der Präsident des Verwaltungsrats des Kollegs ist.

Wenn bei einer öffentlichen Ausschreibung des Europäischen Auswärtigen Dienstes der dortige Entscheidungsträger (und Italiener) Sannino einer Italienerin, die auch noch an der Spitze einer aus Sicht der EU-Institutionen (politisch) erwünschten Drittinstitution (College of Europe) sitzt, wie durch Zauberhand den Zuschlag für EU-Gelder erteilt, kann mich das wirklich nicht mehr überraschen.

Wie soll die EU der Ukraine Werte vermitteln, wenn es ums eigene Haus schon nicht gut bestellt ist?

Eine gute Frage, die sich die EU selbst natürlich niemals stellen würde. Bei einem gründlichen Blick auf die EU fragt man sich allmählich, ob die für die Verwendung des Begriffs der „endemischen Korruption“ vorgegebene Taktzahl an Unregelmäßigkeiten, Machtmissbrauch und Korruptionsvorfällen nicht schon erreicht und überschritten ist.

Von Emmanuel Todd stammt eine in diesem Zusammenhang bedenkenswerte Beobachtung. Dem in Brüssel vertretenen Theorie- und Selbstverständnis liegt die Annahme zugrunde, dass mit jeder EU-Expansion die eigenen Standards auf die Beitrittskandidaten übertragen würden – durch jahrelanges „Monitoring“ und Prüfverfahren der Kommission sowie durch bloße (ideologische) Berührung. Osmose aber ist keine Einbahnstraße. Denn in Wirklichkeit, sagt Todd, hat sich mit jeder ihrer Erweiterungsrunden vor allem die EU selbst verändert. Im Zuge ihrer Ausdehnung hat die EU eben nicht nur ihre eigenen Standards exportiert, sondern auch die historischen Prägungen und politischen Kulturen der beigetretenen Staaten nach Brüssel importiert. Mit Blick auf den Beitrittsprozess der Ukraine könnte man zynisch formulieren: Eigentlich war vorgesehen, dass die Ukraine sich den in der EU geltenden Standards nähert. Unter von der Leyen ist leider versehentlich das Gegenteil passiert: Nicht die Ukraine hat sich der EU, sondern die EU hat sich der Ukraine angeglichen.

Wie sehen Sie die moralische Integrität von Frau von der Leyen im Hinblick auf Korruption?

Machtmissbrauch, Vetternwirtschaft und Favoritismus haben sich deutlich verschärft, seit von der Leyen im Amt ist. Vor allem der Umgang der Europäischen Staatsanwaltschaft mit der Pfizer-Affäre hat maßgeblich dazu beigetragen, dass unter höheren Beamten und Entscheidungsträgern der Eindruck eigener Unberührbarkeit entstanden ist. Dass die EPPO die Pfizer-Affäre mit aller Kraft an sich gezogen hat, nur um sie für immer unter den Teppich zu kehren, hat ein Klima von Straflosigkeit und damit auch eine Narrenfreiheit entstehen lassen, deren Folgen nun deutlich sichtbar sind.

Es geht hier um die ganze Struktur, die ihre Prägung natürlich von der Kommissionspräsidentin selbst erhält. Jeder Skandal endet in Brüssel – dafür ist sie ja selbst das beste Beispiel – mit einer Beförderung, jeder Verstoß gegen europäische Werte wird zum „europäischen Wert“ umgedeutet, jeder Bruch mit Regularien heruntergespielt und ignoriert. Niemand in der EU würde jemals freiwillig zurücktreten, und niemand in der Kommission hat Angst – nicht vor dem Zorn der Bürger, nicht vor dem Parlament und erst recht nicht vor einer Presse, die keine vierte Gewalt mehr ist. Die politische Kultur in der EU ist nicht auf Demokratie gegründet, sondern auf Straflosigkeit.

Für welche Leistungen muss uns Frau Mogherini in Erinnerung bleiben?

Für ihre wissenschaftlichen. Sie war ein halbes Jahr Erasmus-Austauschstudentin in Aix-en-Provence.

Was macht das Collège d’Europe überhaupt?

Es ist die zertifizierte Kaderschmiede der EU, in der der personelle Nachwuchs für ihren administrativen Speckbauch aufgezogen wird. Nominell „unabhängig“, aber jedem der gängigen EU-Narrative aufs Devoteste verschrieben. Und mit einer offen transatlantischen Schlagseite versehen, die nachgerade widersinnig und zutiefst uneuropäisch ist. Als „Europäisches Kolleg“ sollte das Haus am humboldtschen Ideal autonomer Wissenschaft und kritischer Forschung sowie an der Vermittlung von Perspektiven und Interessen der EU ausgerichtet sein – nicht am Wissenschaftsbegriff und an den geopolitischen Sichtweisen der USA. Mogherini aber ist sehr stark an den USA orientiert: Sie ist nicht nur Treuhänderin der International Crisis Group und Fellow des German Marshall Fund, sondern in ihrer bisherigen Amtszeit in Brügge tatsächlich nur ein einziges Mal aufgefallen, als sie das akademische Jahr 2023 nicht (wie vorgeschrieben) nach einem „herausragenden Europäer“ – zuvor waren es etwa Leibniz, Da Vinci, Aristoteles, Voltaire gewesen –, sondern nach der amerikanischen Außenministerin, geopolitischen Strippenzieherin und Kriegsmitverbrecherin Madeleine Albright benannt hat, deren Porträt übrigens überdimensioniert in Mogherinis Rektorinnenzimmer hängt.

Sie haben bereits 2023 den ganzen Laden als „Versorgungseinrichtung“ angeprangert. Hat sich dafür jemand interessiert?

Nein, nur Sie. :-)

Kann es sein, dass den EU-Granden wegen des Oligarchenwechsels in Washington plötzlich der Wind ins Gesicht bläst?

Das halte ich (leider) für unwahrscheinlich. Eher könnte Mogherini ein strukturintern generiertes Ablenkungsmanöver sein: Ähnlich wie gerade in der Ukraine richtet man den Scheinwerfer auf eine Marginalie / korruptive Petitesse, um jeden Verdacht auf daneben existierende Großkorruption zu zerstreuen. Damit wird die unter den Bürgern weit verbreitete Ahnung, dass es etwa beim Abfluss zweistelliger Milliardenbeträge (erst an die Pharma-, nun an die Rüstungsindustrie) und dreistelliger Milliardensummen in ein hochkorruptes Nachbarland nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen sein könnte, aufgenommen und bedient – und gleichzeitig entschärft. Denn die EU kann und wird nun immer sagen: Seht her, liebe Bürger, die EU ist doch eine aufrechte Institution, die über effektive Mechanismen der Selbstkontrolle verfügt und mit aller Härte gegen Übeltäter vorgeht. Alles paletti! Um diesen Effekt eigener Rechtschaffenheit zu erzeugen, wird eben auch mal ein nichtsahnender Bauer geopfert. Oder politisch korrekter: eine nichtsahnende Bäuerin.

Werden wir noch weitere Skandale sehen?

Darauf können Sie wetten.