Weltwirtschaft

Opposition in Russland warnt den Westen: Sanktionen machen Putin stärker

Ökonomen aus dem Umfeld der russischen Opposition zeigen in einer Studie, warum der Westen Russland falsch eingeschätzt hat und wie der Ausweg aussehen könnte.

Wladimir Putin auf dem Waldai-Forum in Sotchi, am 7.  November  2024.
Wladimir Putin auf dem Waldai-Forum in Sotchi, am 7. November 2024.AFP

Ökonomen der russischen Opposition sind in einer Studie zum Ergebnis gekommen, dass die westlichen Staaten von falschen Annahmen ausgehen und die Sanktionen daher Russland nutzen und dem Westen schaden. Die Ökonomen fordern einen radikal anderen Ansatz, wenn die Sanktionen dazu dienen sollen, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wirklich Probleme zu bereiten. Statt ein Embargo gegen russisches Gas zu verhängen, sollte der Westen Nord Stream 2 sofort in Betrieb nehmen und so viel Erdgas wie möglich kaufen. Dadurch würde der Gaspreis gedrückt und Russland müsste sein Gas viel billiger abgeben als jetzt.

Dasselbe gelte für Öl: Würde der Ölpreis drastisch sinken, würden die russischen Ölexporte nach China weniger einbringen. Weiters fordern die Ökonomen eine Umkehr bei der Visa-Erteilung und den Geldflüssen, wie sie am Montag in Berlin im Rahmen des „Korrespondenten Cafés“ erläuterten. Der Westen müsse die besten Leute aus Russland anwerben und Kapitalzuflüsse aus Russland erlauben, also möglichst eine Kapitalflucht provozieren. Dies sei nur möglich, wenn ausreisewillige Russen ihr Geld legal in den Westen bringen könnten. Aktuell erfolgen viele Zahlungen über Kryptowährungen, um die Sanktionen zu umgehen. Um das Geld jedoch im Westen verwenden zu können, müsse es legale Wege geben. Man dürfe auch nicht alle Russen unter Generalverdacht stellen. Die aktuellen Sanktionslisten müssten überarbeitet werden. Es müsse verschiedene Kategorien geben, so dass einfache Übersetzer oder unbeteiligte Wirtschaftsleute nicht gleich wie Kriegsverbrecher behandelt werden.

Die Schlussfolgerungen der Ökonomen Vladislav Inozemtsev, Dimitry Nekrasov und Sergey Aleksashenko, des früheren stellvertretenden Gouverneurs der russischen Zentralbank, beruhen auf einer Studie, die der russische Thinktank Case erstellt hat. Die Präsentatoren der Studie sagten, diese sei mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung erstellt worden. (Update 1: Mittwoch 13.11., 16.15 Uhr: Die Konrad-Adenauer-Stiftung teilt mit, dass sie die Studie nicht unterstützt habe; Update 2: Mittwoch, 21.30: Ein Sprecher von CASE meldet sich und entschuldigt sich für die missverständliche Aussage bei der Präsentation: CASE arbeite zwar an anderen Projekten mit der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen, die vorliegende Studie habe CASE allerdings allein erstellt.)

Demnach könne die russische Wirtschaft nicht mit der der Sowjetunion verglichen werden, sagte Inozemtsev: „Die russische Wirtschaft ist eine freie Marktwirtschaft und hat daher das viel größere Potenzial, in einer Krise zu überleben.“

Die Energiewirtschaft sei trotz der Sanktionen erfolgreich, weil alle Länder und Gas benötigen: „Ja, Russland ist eine große Tankstelle, aber es müssen eben immer wieder alle vorbeikommen, um zu tanken“, so Inozemtsev. Der Ökonom, der heute wie auch Aleksashenko in Washington lebt und mit diversen US-Thinktanks zusammenarbeitet, sagte, es sei das erste Mal gewesen, dass so massive Sanktionen gegen eine große Volkswirtschaft verhängt worden seien. Es habe sich gezeigt, dass eine große Volkswirtschaft in der Lage ist, innerhalb kurzer Zeit alle wichtigen Güter selbst herzustellen.

Außerdem hätten die Sanktionen dazu geführt, dass viele westliche Unternehmen den russischen Markt verließen und die Konsumenten auf russische Produkte zurückgriffen. So habe Deutschland seine Stellung auf dem Automobilmarkt verloren und sei von China abgelöst worden. Etwa 100 Milliarden Dollar, die die Russen vor den Sanktionen im Ausland ausgegeben hatten, sei in die russische Wirtschaft zurückgewandert: „Die Sanktionen haben Russland viel weniger geschadet als Europa“, sagte Inozemtsev. Ebenfalls falsch eingeschätzt habe der Westen die russische Bürokratie. Es gäbe eine sehr effiziente und kompetente Verwaltung, vor allem an der Spitze: Inozemtsev sagte, man könne der Zentralbankchefin und dem Finanzminister zwar vorwerfen, dass sie Putins Kriegsanstrengungen genützt hätten. Rein wirtschaftlich hätten sie jedoch sehr gute Arbeit geleistet. Putin werde seinen Krieg noch viele Jahre führen können – und gleichzeitig werde die Wirtschaft wachsen.

Der in Zypern lebende Oppositionspolitiker Dimitrii Gudkov sagte, die wirkungsvollste Sanktion wäre, wenn der Westen Russland den Zugang zu seinen Technologien verweigern würde. Russland setzte auf Digitalisierung und heute schon weiter als Europa. Dimitry Nekrasov sagte, es herrsche ein regelrechter Wirtschaftsboom in Russland. Der Westen müsse das Zeitfenster von Friedensverhandlungen nützen, um seine Sanktionen neu aufzusetzen: „Je länger die Sanktionen dauern, umso besser kann sich Russland darauf einstellen.“ Sollte es hier keinen Kurswechsel geben, werde Russland in den kommenden zehn Jahren in der Lage sein, sich zu konsolidieren, zu wachsen und neue Allianzen mit den Staaten des Globalen Südens schließen. Das Wachstum der russischen Wirtschaft sei keineswegs nur auf die Rüstungsindustrie beschränkt. Dies mache nur einen vergleichsweise geringen Anteil aus: Etwa 6,5 Prozent des russischen Staatshaushalts gehen in die Rüstung. Im Vergleich: Israel gibt jährlich 19 Prozent seines Budgets für Rüstung aus. Russland habe massiv in die Infrastruktur investiert. So seinem innerhalb eines Jahres die öffentlichen Verkehrsmittel ausgebaut worden. Nekrasov sagte, die Dimension sei so, als würden in Berlin die U-Bahn um 20 Prozent und die S-Bahn um 50 Prozent ausgebaut werden. Die realen Einkommen seien um 17 Prozent gestiegen. Dazu habe auch beigetragen, dass Russland in der Ukraine erstmals mit einer Söldner-Armee agiert. Die Leute wurden nicht zwangsrekrutiert, sondern kämen freiwillig wegen des Geldes. Man spreche daher von einer „Ökonomie des Todes“: Jeder Soldat erhält eine Einmalzahlung von 25.000 Dollar, im Todesfall erhält die Familie 150.000 Dollar: „Das ist mehr, als ein durchschnittlicher Russe im Laufe eines ganzes Berufsleben bis zur Rente verdienen kann“, sagte Nekrasov. 

Die Studie wird am Dienstag der Bundesregierung vorgestellt. Die Ökonomen sind entschiedene Gegner von Präsident Putin und lehnen insbesondere den Krieg in der Ukraine ab.