Interview

Melnyk: „Deutschland und Ukraine können Weltspitze bei Rüstung werden“

Andrij Melnyk könnte nach Brasilien gehen. Er könnte aber auch in Europa bleiben und eine wichtige Rolle in den deutsch-ukrainischen Beziehungen übernehmen.  

Andrij Melnyk als Botschafter der Ukraine in der Botschaftsresidenz in Berlin.
Andrij Melnyk als Botschafter der Ukraine in der Botschaftsresidenz in Berlin.Berliner Zeitung/Paulus Ponizak

Die Entscheidung, ob der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, seinen neuen Botschaftsposten in Brasilien antritt, ist noch nicht gefallen. Zwar liegt bereits die Zustimmung der brasilianischen Regierung vor, doch müssen die Rahmenbedingungen erst geklärt werden. Melnyk sagte der Berliner Zeitung: „Natürlich wäre es für mich eine Ehre, mein Land in Brasilien vertreten zu können. Es ist mir jedoch wichtig, dass vorher alle notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden, damit ich die Interessen der Ukraine wirksam wahrnehmen und für meine Heimat und die bilateralen Beziehungen viel erreichen kann. Dazu braucht es die Zusage eines budgetären und personellen Rahmens, innerhalb dessen man überhaupt erfolgreich arbeiten kann. Denn natürlich ist mein möglicher Einsatz in Brasilien mit hohen Erwartungen verbunden. Dem möchte ich auf jeden Fall gerecht werden.“ Melnyk sagte, dass die Ukraine die „Bemühungen des brasilianischen Präsidenten Lula um eine eventuelle Vermittlung im Konflikt sehr aufmerksam verfolgt“. Melnyk bereitet sich nach eigenen Angaben aktuell auf den Posten in Brasilien vor, den er, wenn alle Bedingungen stimmen, voraussichtlich im Herbst antreten würde.

Sollte es mit Brasilien nicht klappen, kann Melnyk sich vorstellen, „in welcher Funktion auch immer weiter für die deutsch-ukrainischen Beziehungen zu arbeiten“, möglicherweise auch außerhalb des diplomatischen Dienstes. Zum Beispiel gebe es gute Aussichten in der Rüstungsindustrie. Melnyk: „Ich bin sehr stolz, das es uns gelungen ist, einen Deal zwischen Rheinmetall und der ukrainischen Regierung zu begleiten, wonach eine gemeinsame Produktionsstätte in der Ukraine errichtet wird.“ Es gehe „um strategische Projekte für die Zeit nach dem Krieg“. Der heutige Vizeaußenminister der Ukraine: „Die Ukraine war vor dem Krieg immer unter den Top 15 der Rüstungsexporteure. Deutschland hat ebenfalls hervorragende Kapazitäten. Wir könnten diese Synergien nutzen, um Weltspitze zu werden und modernste Waffensysteme gemeinsam herzustellen. Einerseits muss die Ukraine massiv aufgerüstet werden, um genug Abschreckungspotenzial zu schaffen und somit neue – vielleicht noch schlimmere – Aggressionen Russlands zu verhindern. Andererseits könnten die Ukraine und Deutschland gemeinsam die gesamte Welt mit den besten Panzern und anderen Waffen beliefern. Das würde sowohl den strategischen Interessen unserer beiden Länder entsprechen als auch der deutschen Rüstungsindustrie einen riesigen Schub geben“, so Melnyk. Man müsse nur „kreative mutige Ideen verwirklichen und neue Ambition zeigen“. Die Rheinmetall-Aktie habe sich seit dem Kriegsausbruch „fast verdreifacht“, was zeige, „dass wir die Unternehmenswerte steigern können“. Melnyk: „Die Bedeutung der Rüstungsindustrie für Arbeitsplätze in Deutschland wird oft unterschätzt. In Zukunft könnte diese systemrelevante Branche, in der schon heute über 135.000 Beschäftigte 30 Milliarden Euro Wertschöpfung generieren, genauso viele Arbeitsplätze schaffen wie die Autoindustrie oder der Maschinenbau.“

Die aktuelle Lage in Kiew sei so, dass „es seit zwei Wochen wieder massive nächtliche Raketenangriffe auf die Stadt gibt“. Der Raketenbeschuss erfolgt laut Melnyk auf mehreren Ebenen gleichzeitig, nämlich „mit iranischen Drohnen, Marschflugkörpern und seit Kurzem vermehrt auch mit ballistischen Hyperschallraketen“. Die russischen Streitkräfte würden „gezielt die Energieinfrastruktur angreifen“. Es bestehe die Sorge, dass „Russland mit diesen Attacken unsere Reserven ausschöpfen will, um demnächst Bombergeschwader gegen die Städte einsetzen zu können“. Dennoch habe sich die Luftabwehr rund um Kiew gut bewährt. Melnyk: „Wir können in dieser schwierigen Lage immerhin auch als Erfolg verbuchen, dass wir mit Patriot-Luftabwehrsystemen russische Überschallraketen Kinschal abgeschossen haben. Das galt bisher als unmöglich. Nun haben wir der Welt gezeigt, dass es doch geht und dass die Russen bei Weitem nicht so überlegen sind, wie Putin es der Welt gerne einreden will.“ Allerdings sei es dringend notwendig, die Luftabwehr aufzustocken. Denn laut Melnyk besteht ein krasses Missverhältnis: „Eine Shahed-Drohne, die großen Schaden bei uns anrichten kann, kostet etwa 50.000 Euro. Eine einzige Iris-T-Rakete, die für den Abschuss manchmal eingesetzt werden müsste, kostet hingegen das Zehnfache. Wir brauchen daher viel mehr Luftabwehr und Munition aus Deutschland, um den Himmel über ukrainischen Städten sicherer zu machen.“

Melnyk sagt, dass sich das Bild in Kiew trotz der russischen Angriffe in den zwei letzten Monaten geändert habe: „Das Leben kommt langsam wieder, die Menschen kehren nach Hause zurück, es ist ihre Heimat, hier fühlt man sich am wohlsten.“ Von einem normalen Leben könne jedoch keine Rede sein, Melnyk spricht von einem „trügerischen Gefühl der Sicherheit“. Während das Leben tagsüber relativ normal verlaufe – man werde abgelenkt –, würde der Krieg die Menschen jede Nacht einholen: „Wir haben natürlich nicht genug Luftschutzbunker. Wenn es Luftalarm gibt, legen sich die Menschen oft mit einer Matratze in den Flur ihrer Wohnung, weil sie zwischen den Wänden am ehesten vor Glassplittern von berstenden Fenstern geschützt sind. Ich kenne viele Familien, bei denen die Kinder seit Monaten in der Badewanne schlafen, weil sie dort am sichersten sind.“

Um den Krieg zu beenden, sei es die Aufgabe von Präsident Wolodymyr Selenskyj, durch die Welt zu reisen, um möglichst überall auf die Lage in der Ukraine hinzuweisen. Selenskyjs jüngste Teilnahme am Gipfel der Arabischen Liga bewertet Melnyk als wichtig, „weil in vielen dieser Länder die russischen Narrative Gehör finden“. Der Präsident habe „mit vielen Staatsoberhäuptern in Dschidda gesprochen, die er noch nie getroffen hat“. Es sei Selenskyjs Anliegen, „möglichst viele Länder weltweit davon zu überzeugen, dass eine neutrale Haltung in diesem Krieg nicht richtig ist“. Dies sei schwierig, weil einige Staaten enge wirtschaftliche Beziehungen mit Russland unterhielten. Melnyk ist jedoch überzeugt, dass ein Umdenken erreicht werden kann: „Auch in Deutschland gab es anfangs viel Skepsis, doch heute gibt es, Gott sei Dank, einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die Ukraine in ihrem Recht auf  Selbstverteidigung mit allen verfügbaren Mitteln unterstützt werden muss. Wir rufen den Kanzler auf, uns endlich auch Kampfjets wie Eurofighter und Marschflugkörper Taurus zu liefern.“