Eigentlich müsste es Friedrich Merz besser wissen. Als ehemaliger Mitarbeiter des Finanzriesen Blackrock sollte er die Zusammenhänge an den internationalen Finanzmärkten kennen: Der Plan von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, zur Finanzierung der Ukraine auf 140 Milliarden Euro aus den eingefrorenen russischen Zentralbankvermögen zuzugreifen, könnte zu schweren Verwerfungen führen.
Jeffrey Sachs, Ökonom, Diplomat und Berater zahlreicher Regierungen und Institutionen in aller Welt, sagte der Berliner Zeitung: „Der Plan ist illegal, rücksichtslos und wird Europa im Falle seiner Umsetzung zwangsläufig sehr hohe Kosten verursachen. Das sagen auch führende europäische Finanzexperten. Europas finanzielle Glaubwürdigkeit wird schwer beschädigt, ganz zu schweigen von den Folgen russischer Klagen und Vergeltungsmaßnahmen. Darüber hinaus würde diese Aktion Europa tief spalten und die Beziehungen innerhalb der EU vergiften.“
Merz will De Wever bearbeiten, Orbán stoppt Eurobonds
Doch Bundeskanzler Merz wollte noch bis zum Freitag an dem Plan festhalten. Er sagte einen Besuch beim norwegischen König ab, um nach Brüssel zu reisen. Dort wollte er gemeinsam mit von der Leyen den belgischen Premierminister Bart De Wever bearbeiten, seinen Widerstand gegen den Plan aufzugeben. Merz ist unter Druck, weil Ungarns Premierminister Viktor Orbán den Plan B der EU zu Fall gebracht hat: Ungarn schloss am Freitag die Ausgabe von Eurobonds zur Unterstützung der Ukraine offiziell aus. Dieser Schritt beraubt die EU einer Alternative für den Fall, dass es ihr nicht gelingt, eingefrorene russische Vermögen nutzen.
De Wever hat klargemacht, dass sein Land nur zustimmen werde, wenn alle anderen Länder die Haftung für die möglichen Folgen übernehmen. Allerdings weiß niemand, welche Folgen die beispiellose Aktion haben wird: Die eingefrorenen russischen Vermögenswerte in Höhe von 193 Milliarden Euro stellen nur 0,5 Prozent der gesamten Einlagen in Höhe von 42,5 Billionen Euro dar, die das belgische Wertpapierhaus Euroclear verwaltet.
Update Samstag, 10 Uhr: Der Versuch, den Belgier umzustimmen, war offenbar nicht erfolgreich. Merz bezeichnete sein Gespräch mit de Wever als „konstruktiv“, meldet die AFP. Die besondere Betroffenheit Belgiens sei „unbestreitbar“ und müsse „so adressiert werden, dass alle europäischen Staaten dasselbe Risiko tragen“, hieß es am Freitagabend in einer Erklärung des Bundeskanzlers. Die Gesprächspartner waren sich laut Regierungssprecher Stefan Kornelius einig, „dass in der aktuellen geopolitischen Lage die Zeit drängt.“ Zudem hätten Merz, de Wever und von der Leyen festgestellt, „dass die finanzielle Unterstützung der Ukraine von zentraler Bedeutung für die Sicherheit Europas sei.“ Sie hätten sich geeinigt, ihren Austausch fortzusetzen, mit dem Ziel, beim Europäischen Rat am 18. Dezember eine einvernehmliche Lösung zu finden.
Valérie Urbain warnt vor Euroclear-Konkurs
Ein Crash des Unternehmens Euroclear könnte zu einer finanziellen Kernschmelze führen. Merz und von der Leyen sehen diese Gefahr offenbar nicht. Zuletzt sagten anonyme EU-Insider der Financial Times (FT), dass es Situationen gebe, in denen die Politik über dem Recht stehe. Außerdem, so diese Quellen, würden die Gerichte langsam arbeiten. Man könne sich das Geld also schnappen und sich später mit der Frage befassen, ob es sich um einen „Diebstahl“ handele, wie die Russen sagen. Ein solches Verhalten ist bei globalen Finanzriesen nicht ungewöhnlich. Immer wieder werden Gesetze umgangen oder ignoriert, im Wissen, dass die Strafe nur einen Bruchteil der Beute ausmachen würde.
In diesem Fall liegen die Dinge jedoch anders: Valérie Urbain, CEO von Euroclear, warnte am Freitag noch einmal nachdrücklich vor den Folgen einer möglichen Verwendung der blockierten russischen Vermögenswerte als Kredit an die Ukraine. „Die derzeitige Lösung ist unrealistisch“, sagte Urbain am Freitagmorgen im Radiosender RTBF La Première.
Urbain sagte, eine solche Aktion könne angesichts der zentralen Rolle von Euroclear das internationale Finanzsystem destabilisieren. Sie versuchte, Merz und von der Leyen die Realität zu erklären. Urbain sagte, der Fall zeige ein „Missverständnis der Funktionsweise von Euroclear und der Finanzmärkte“. Die Verwendung der von Euroclear gehaltenen russischen Vermögenswerte in Höhe von rund 180 Milliarden Euro würde ein „sehr erhebliches Ungleichgewicht“ in der Bilanz von Euroclear verursachen, da Russland stets das Recht hätte, die Gelder zurückzufordern, selbst wenn diese aus der Bilanz des Finanzinstituts entfernt würden.
Urbain bestätigte am Freitag die finanziellen Risiken für Belgien, falls Euroclear in Konkurs gehen sollte. Sollte die EU Euroclear zur Freigabe der russischen Vermögenswerte zwingen, würde das Brokerhaus die Entscheidung gerichtlich anfechten, bekräftigte die Geschäftsführerin. In anderen Medien hatte Urbain bereits klargemacht, dass ein hohes Risiko bestehe, dass die derzeitige Lösung „als Beschlagnahmung betrachtet werden könnte“. Für diesen Fall muss der Broker vorsorgen. Kann er das nicht, droht die Insolvenz – und damit ein veritabler Banken-Krach.
Sorgen auf den Finanzmärkten
Während sich Merz und von der Leyen nach außen unbeeindruckt von diesen Hinweisen geben, wird international registriert, dass Bundesregierung und EU-Kommission mit dem Feuer spielen: „Mehrere europäische Politiker, allen voran EZB-Präsidentin Lagarde und Euroclear-Chefin Urbain, haben sich besorgt über die zu erwartenden Marktreaktionen geäußert“, sagt Jeffrey Sachs. Es ist sogar die Rede davon, dass die Aktion als faktische Kriegserklärung an Russland gesehen werden könnte. Sachs: „Einige russische Politiker haben diese Formulierung verwendet. Das sollte man ernst nehmen.“ Sachs sagt, dass er „die europäischen Staats- und Regierungschefs mit Ratlosigkeit und Bestürzung“ betrachte: „Europas Führung wird als sehr schwach und unklug wahrgenommen.“
Sachs hält es für möglich, dass die Aktion zu einem Finanzkollaps in Europa führen könnte: „Die finanziellen Folgen könnten sich im Laufe der Zeit als erheblich erweisen.“ Der Preis könnte aber noch höher sein – gerade weil sich Merz in dieser Frage so stark exponiert. Die politischen Konsequenzen würden weitreichend sein: „Die EU wird in Aufruhr geraten, wenn der Widerstand mehrerer Staaten einfach von Deutschland übergangen wird.“ Sachs weiter: „Das Hauptproblem wird eine tiefe Krise innerhalb Europas sein, insbesondere im Hinblick auf die Vergeltungsmaßnahmen Russlands. Die politische Gegenreaktion in Europa gegen Merz, Macron und von der Leyen wird heftig sein.“
Italien will sein Gold von der EZB zurück
Auch die Slowakei und Ungarn sind nämlich gegen den Zugriff, ebenso Frankreich und Italien. In Rom ist man besonders nervös: Dieser Tage hat die Partei von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni eine Erklärung lanciert, dass die Goldreserven der italienischen Zentralbank dem italienischen Staat gehörten. Die Europäische Zentralbank (EZB) schickte einen geharnischten Brief an Meloni und beharrt darauf, dass das Gold der Reserven dem „Eurosystem“ gehöre. Immerhin haben die italienischen Goldreserven aktuell einen Wert von 290 Milliarden Euro – Geld, das das immer noch hoch überschuldete Italien gut für die Crash-Vorsorge gebrauchen kann.
Jeffrey Sachs glaubt, dass die Ereignisse Ausdruck einer tiefen Krise der EU sind: „Europa zeigt ein allgemeines Versagen in Politik, Diplomatie und Führung. Anstatt sich auf absurde Weise russische Vermögenswerte anzueignen, sollte Europa mit Russland verhandeln, um den Krieg zu beenden und die kollektive Sicherheit in Europa wiederherzustellen. Stattdessen hat Europa die gesamte Diplomatie den USA überlassen und betreibt stattdessen unerbittliche Kriegstreiberei.“ Ein solcher Schritt würde einen „sehr schweren Bruch innerhalb Europas verursachen, insbesondere weil er als Machtspiel Deutschlands unter Führung von Merz und von der Leyen gewertet werden wird“. Die Aktion würde, sollten Merz und von der Leyen wirklich nicht davon abzubringen sein, „wahrscheinlich einen Zündfunken auslösen, der zu einem großen Umbruch führen könnte“.
