Energie

Die Zeichen mehren sich: Atomkraft könnte Klima-Krise beenden

Die Kernenergie könnte vor einem überraschenden Comeback stehen. Die Grünen in Frankreich sind schon eingeknickt.

Emmanuel Macron sieht die nähere Zukunft der EU-Energiepolitik in der Kernkraft. 
Emmanuel Macron sieht die nähere Zukunft der EU-Energiepolitik in der Kernkraft. AP

Die aktuelle Energie-Krise könnte zu einer Renaissance der Atomkraft führen. Zehn EU-Staaten haben der EU-Kommission einen Offenen Brief geschrieben, in dem sie die Kernenergie über den grünen Klee loben. Es gäbe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass Kernenergie „weniger klimafreundlich ist als andere Energieträger“, schreiben die Vertreter von Frankreich, Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Finnlands, Ungarns, Polens, Rumäniens, der Slowakei und Sloweniens. Daher fordern diese Länder, Atomkraft als „grüne Investition“ anzuerkennen. Die Staaten führen auch eine geopolitische Dimension an: Die Nuklearenergie trage „erheblich zur Unabhängigkeit unserer Energieproduktion bei“, heißt es in dem Brief. Die Einstufung solle „bis Ende des Jahres“ erfolgen, forderten sie. Dies hätte zur Folge, dass neue Atomkraftwerke Investoren aus der EU anziehen könnten.

Die Anerkennung als „grün“ hätte vor allem für Investoren weitreichende Folgen und erhebliche Vorteile: Investitionen, die das offizielle Label Grün erhalten, sind deutlich besser eingestuft als andere Investments. Dies ist vor allem für die großen institutionellen Anleger von Bedeutung, die verpflichtet sind, nach bestimmten Kriterien zu investieren. So hat der große norwegische Pensionsfonds bereits vor Jahren besonders scharfe Umwelt-Kriterien eingeführt. Die Zentralbanken haben sich ebenfalls den Klimaschutz auf die Fahnen geschrieben, weshalb grüne Investments zum Maß aller Dinge geworden sind. Auch die Gas-Industrie versucht daher aktuell, als „grün“ anerkannt zu werden – ein Ansinnen, das vor allem von Russland-Skeptikern bekämpft wird.

Gerade für Frankreich ist die Rehabilitierung der Atomkraft ein wichtiges Anliegen. Es spielt sogar im laufenden Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle – und zwar ganz anders als früher: War die Kernkraft jahrzehntelang ein Feindbild, haben sich sogar die ehemals militanten Atomkraft-Gegner um 180 Grad gedreht: Die französischen Grünen schieben den früher vehement geforderten Atomausstieg inzwischen verbal weit in die Zukunft. „Niemand sagt, dass wir morgen die Atomkraftwerke runterfahren“, sagt der grüne Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot. Er rechne mit 20 Jahren bis zum Ausstieg. „Und wenn es fünf Jahre mehr sind, dann ist das eben so.“ Eine derart positive Einstellung ist bei den deutschen Grünen noch nicht zu erkennen. Sollten sie in einer Regierung landen, könnte sich die Haltung aber rasch ändern: Im Gas-Bereich müssten die Grünen Russland als Partner anerkennen, was sie aktuell in keiner Weise tun. Die schärfste Kritik an Putin und Nord Stream 2 kommt von den Grünen – unter anderem von Cem Özdemir, Reinhard Bütikofer und Marieluise Beck.

Atomkraft im Umfeld der Klimaaktivisten von Fridays for Future

Doch mit dem Kohleausstieg steht die Industrienation vor einer großen Herausforderung: Was tun, wenn Windkraft und Solar weiter so massive Absicherung brauchen wie bisher? Im ersten Halbjahr 2021 hat der Energieversorger RWE schon einmal Alarm geschlagen: Die aus der Windkraft gewonnenen Volumina seien „deutlich geringer“ gewesen als erwartet – das Wetter spielt nicht mit. Die Atomkraft dagegen wird auch von den Klimaaktivisten von Fridays for Future schon dezent ins Gespräch gebracht: Greta Thunberg bezeichnete vor einigen Monaten die Kernenergie als Option und löschte ihren Tweet hastig nach ersten Protesten. Bei der jüngsten Demo der Bewegung in Berlin war unter anderem eine jugendliche Demonstrantin mit einem Pro-Atomkraft-Schild zu sehen. Sie wurde dann sehr öffentlichkeitswirksam von einem Mann niedergestoßen – niemand weiß, wer hinter den Demonstranten steht oder wer versucht, seine Botschaften in dem Umfeld zu platzieren.

Präsident Emmanuel Macron kündigte am Dienstag jedenfalls Investitionen in Höhe von einer Milliarde Euro in den Bau kleiner Atomkraftwerke und neue Technologien für den Umgang mit Atommüll an. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass Frankreich massive Investitionen in Atomkraft ankündigt.

Macron verfolgt bei diesem Thema seine häufig genutzte Sowohl-als-auch-Strategie, um keines der Lager zu verprellen: Er will in Atomkraft investieren, aber nebenher sollen auch erneuerbare Energien ausgebaut werden. Dabei geht es ihm um den Kampf gegen Klimawandel ebenso wie um den Schutz der heimischen Industrie – und nicht zuletzt um die Strompreise.

Die Atomindustrie sei „ein Glück für das Land“, betonte Macron am Dienstag in einer Rede im Elysée-Palast. Sie ermögliche es Frankreich, „zu den europäischen Ländern zu zählen, die am wenigsten CO2 bei der Stromproduktion ausstoßen“. Im Vergleich zu Deutschland produziert Frankreich tatsächlich erheblich weniger Kohlendioxid – was vor allem daran liegt, dass 70 Prozent des Stroms aus den emissionsarmen Atomkraftwerken kommen.

Atomindustrie hat wenig Interesse an kleinen Reaktoren

Unterdessen überbieten sich die Präsidentschaftskandidaten im konservativen und rechten Lager mit Atom-Rhetorik. Der konservative Kandidat Xavier Bertrand will mindestens drei neue EPR-Kraftwerke bauen lassen, die Rechtspopulistin Marine Le Pen gleich sechs und der rechtsextreme Noch-Nicht-Kandidat Eric Zemmour am liebsten zehn.

Dabei geht der einzige europäische Druckwasserreaktor (EPR), der in Frankreich überhaupt gebaut wird, frühestens 2023 ans Netz - mit elf Jahren Verspätung und nahezu vier Mal so teuer wie geplant. Und über das geplante Endlager für Atommüll im lothringischen Bure ist auch noch längst nicht endgültig entschieden.

Die Mini-Reaktoren (SMR), in die Macron nun investieren will, sind bei weitem nicht produktionsreif. Ein einziges Modell läuft derzeit in Russland. Die französische Atomindustrie hat wenig Interesse an den kleinen Reaktoren, weil sie relativ wenig Strom produzieren und somit herkömmliche Atomkraftwerke nicht ersetzen können.

Frankreich hat sich verpflichtet, bis 2035 den Anteil des Atomstroms auf 50 Prozent zu senken, ein Dutzend alte Reaktoren abzuschalten und zugleich die erneuerbare Energie auszubauen. Es ist nicht sicher, dass es wirklich dazu kommt – oder ob es der Atomkraft gelingt, plötzlich zum Kraftstoff eines neuen „grünen“ Lebensgefühls zu werden. (mit AFP)