Kommentar

Corona-Proteste: Um die Grundrechte müssen wir immer kämpfen

Die Corona-Proteste in China zeigen: Die Menschenrechte sind universal. Der Westen hat keinen Grund zu Häme oder Überheblichkeit. 

Arbeiter in Schutzkleidung versammeln sich am Mittwoch in Peking zu ihrem Dienst.
Arbeiter in Schutzkleidung versammeln sich am Mittwoch in Peking zu ihrem Dienst.AP

Die heftigen Proteste der chinesischen Bevölkerung gegen die drakonischen Corona-Maßnahmen haben die Führung in Peking sichtlich überrascht: Am Mittwoch gab die Vizeministerpräsidentin der Volksrepublik, Sun Chunlan, bekannt, man trete in eine neue Phase der Pandemiebekämpfung ein. Die Omikron-Variante sei weniger pathogen, daher könne ein lockerer Umgang mit dem Virus in Erwägung gezogen werden.

Chinesische Offizielle sind, auch wenn sie sich nicht namentlich zitieren lassen wollen, betroffen von den massiven Wutausbrüchen in vielen Städten gegen die Regierung. Die Offiziellen zeigen Verständnis und sagen, nach drei Jahren der harten Maßnahmen sei die Bevölkerung „emotional“ am Limit. Die erst kürzlich beschlossenen Lockerungen einer „29-Punkte-Regelung“ seien Teil einer „dynamischen Covid-Politik“ und nicht die direkte Reaktion auf die Proteste.

Von chinesischer Seite wird betont, es gebe viele Menschen, die die Freiheit wollten, aber auch viele, die von ihrer Regierung mehr Schutz verlangten. Die Partei habe dem chinesischen Volk Sicherheit und Wohlstand versprochen und müsse daher vorsichtig vorgehen. Würde China wie Deutschland öffnen und wäre die Sterberate vergleichbar, bedeutete dies 2,6 Millionen Tote: „Wenn 2,6 Millionen Menschen sterben, dann gehen die Menschen hier wirklich auf die Straße“, so die Erklärung. Dies könne und werde man nicht riskieren, zumal die Parteikader einräumen, die medizinische Infrastruktur hinke der des Westens weit hinterher.

Die Eruption des Zorns über wochenlange Quarantäne, lückenlose Überwachung und willkürliche staatliche Zwangsmaßnahmen gegen einzelne Personen zeigen, dass die Menschen für ein Leben in Würde auch in China Grund- und Freiheitsrechte benötigen. Diese Rechte fordern die Chinesen trotz eines repressiven Systems nun ein – mit höchstem persönlichen Risiko. Die chinesische Ideologie, dass die Gemeinschaft mehr wert sei als der Einzelne, ist nicht nachhaltig. Natürlich kann China eine andere Balance zwischen Freiheit und Gleichheit wählen, etwa im wirtschaftlichen Bereich. Hier ist den Kommunisten Historisches gelungen, weil sie Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt haben. Doch auf diesem Erfolg kann sich die chinesische Führung nicht ausruhen: Um den Wohlstand zu sichern, muss sie ihren Bürgern die Grund- und Freiheitsrechte garantieren. Diese Garantie muss institutionell abgesichert werden: durch Gewaltenteilung, Transparenz und eine starke Zivilgesellschaft. All diese Elemente sind nötig, um eine Demokratie zu entwickeln.

Es ist ein weiter Weg, um zu einem solchen Gesellschaftsmodell zu kommen. Die universale Geltung der Menschenrechte wird dazu führen, dass das demokratische Modell sich auch in China Bahn brechen wird. Die Corona-Pandemie kann hier als Katalysator wirken, der Entwicklungen beschleunigt, die der Kommunistischen Partei Chinas gar nicht ins Konzept passen.

Von westlicher Seite sind Häme und Überheblichkeit allerdings unangebracht: Das Virus hat die ganze Welt aus den Angeln gehoben. Daher gibt es gemeinsame Interessen: etwa die Aufklärung über die Ursprünge, die die chinesischen Offiziellen genauso beschäftigen wie westliche Politiker. Oder die Frage nach den extrem gefährlichen Biolaboren: Niemand sollte ein Interesse haben, solche zu betreiben, wenn nicht absolut sichergestellt werden kann, dass es zu keinem Unfall kommt. Oder aber die gemeinsame Suche nach medizinischen Antworten auf globale Pathogene. Forscher können und sollen zusammenarbeiten, unbesehen des ideologischen Umfelds ihrer jeweiligen Staaten. Die Politisierung der Wissenschaften ist menschenfeindlich.

Das streckenweise eklatante Versagen der westlichen demokratischen Institutionen in der Corona-Pandemie sollte schließlich allen vor Augen führen, dass die Grund- und Freiheitsrechte stets aufs Neue erworben und gegen mannigfache Attacken verteidigt werden müssen. Demokratie ist, das hat der Westen in der Corona-Zeit genauso erlebt wie China, ein Prozess. Es gibt Rückschläge und Fortschritte. Es gibt Opportunisten und Humanisten. Es gibt Denunzianten und Aufrichtige. Es gibt Profiteure und Samariter.

Um die Demokratie lebendig zu halten, braucht es im zivilgesellschaftlichen Bereich Menschen mit Mut, Empathie, Sachverstand und Zivilcourage. Es braucht Menschen in Verantwortung, die allen populistischen und kommerziellen Versuchungen widerstehen. In der Krise kann jeder Einzelne scheitern, wenn er nach diesen Maßstäben gemessen wird. Doch auch jeder kann gewinnen. Je mehr Einzelne es sind, desto besser ist es für die ganze Menschheit.