Türkei

Chaos in der Türkei: Wie Präsident Erdogan das Land an den Abgrund führte

Die Inflation in der Türkei galoppiert. Die Lira befindet sich im freien Fall. Doch von höheren Zinsen will Präsident Erdogan nichts wissen. Was treibt ihn an? 

Die Lira in Turbulenzen: Kunden warten in Istanbul vor einer Geldwechselstube. Die Türkei befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise. 
Die Lira in Turbulenzen: Kunden warten in Istanbul vor einer Geldwechselstube. Die Türkei befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise. Foto: ZUMA Press Wire / dpa

Istanbul-Es war ein dramatischer Absturz am Ende eines wilden Jahres. Die türkische Währung ist in den letzten Wochen in schwere Turbulenzen geraten. Für die Lira gab es nur eine Richtung: nach unten. Zwischenzeitlich war der Euro auf über 20 Lira gestiegen, ein Dollar kostete erstmals 18 Lira. Die Inflation im Land galoppiert. Zuletzt lag sie bei 21 Prozent. Für viele Türken sind Dinge des täglichen Lebens zum Luxus geworden. Und der Frust in der Bevölkerung wächst.

Währungskrise in der Türkei: Wie die Regierung helfen will

Keine Frage: Es musste etwas passieren. Die Türkei ist in eine schwere Wirtschaftskrise geraten. Im Kern handelt es sich um eine Vertrauenskrise in die Stabilität der Währung. Innerhalb eines Jahres hat die Lira mehr als die Hälfte ihres Wertes verloren. Inzwischen hat der Staat reagiert. Die Regierung verspricht, die Einlagen ihrer Bürger gegen Verluste aus Wechselkursschwankungen abzusichern. Sollten die Einbußen größer sein als die von den Banken versprochenen Zinsen, springt der Staat ein. Damit will Präsident Recep Tayyip Erdogan verhindern, dass die Türken Lira gegen Fremdwährung tauschen – und der Verfall ungebremst weitergeht. Auch Unternehmen sollen vor hohen Wechselkursrisiken geschützt werden. 

Grafik: BLZ/Galanty; Quelle: EZB, Türkische Zentralbank, DPA

Zumindest für den Moment ist der Absturz gestoppt. Nach der Ankündigung des Präsidenten wertete die Lira deutlich auf – zwischenzeitlich ging es um über 25 Prozent nach oben. Eine Trendwende? „Die Wirtschaftspolitik der Regierung ist nicht nachhaltig“, sagt Erdal Yalcin, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Konstanz. Der Wissenschaftler mit türkischen Wurzeln hält die Probleme des Landes für hausgemacht. Man könnte auch sagen, sie hängen mit einer Person zusammen: der des Präsidenten. Recep Tayyip Erdogan betreibt eine Politik, die versucht, ökonomische Gesetze außer Kraft zu setzen. 

Türkei: Warum Präsident Erdogan gegen Zinsen kämpft

Der türkische Präsident hängt einem Aberglaube an, wonach Zinsen die Inflation befeuern. Es handele sich dabei schließlich um Kosten, so die unorthodoxe Begründung. Daher zwingt Erdogan die Zentralbank, die Zinsen immer weiter zu senken. Ein typischer Erdogan-Satz lautet: „Solange ich im Amt bin, werde ich immer gegen Zinsen kämpfen.“ Mit dieser Form von Voodoo-Ökonomie hat Erdogan die Türkei an den Rand des Abgrunds geführt. Es ist so, als würde die Feuerwehr versuchen, einen Brand mit Benzin zu löschen. Ökonomen beobachten das Treiben in der Türkei mit Entsetzen. Ihre Diagnose ist eindeutig: Das Land braucht keine lockere Geldpolitik – sondern eine Zinserhöhung, um den Preisauftrieb abzubremsen.

„Es gibt kein Land auf der Welt, das seine Inflation mit Niedrigzinspolitik unter Kontrolle gebracht hat“, sagt Wirtschaftsprofessor Yalcin. Auch die Türkei werde daran scheitern. Die Frage ist nur: Wie hoch wird der Preis sein? Ein Grundproblem ist, dass im Präsidentenpalast ein wirtschaftspolitisches Korrektiv fehlt. Erdogan umgibt sich mit Ja-Sagern – und er regiert in die formal unabhängige Zentralbank hinein. Wer widerspricht, muss gehen. Aktuell steht Sahap Kavcioglu an der Spitze – wohlgemerkt: als vierter Präsident seit 2019. Erst Anfang Dezember musste auch Finanzminister Lütfi Elvan seinen Posten räumen. Er hatte es gewagt, Zweifel an der Geldpolitik des Präsidenten zu äußern. 

Wenn man der türkischen Wirtschaftspolitik vordergründig etwas zugutehalten will, dann wohl das, dass der Kampf gegen Zinsen die Konjunktur befeuert. Selbst im Corona-Jahr 2020 legte die türkische Volkswirtschaft um 1,8 Prozent zu. In diesem Jahr könnte das Wirtschaftswachstum bei rund neun Prozent liegen. Nur: Die Werte sind nominal. Real kommt bei der Bevölkerung durch die hohe Inflation immer weniger an. Sie verarmt. Der Konstanzer Hochschullehrer Erdal Yalcin fürchtet, dass die Türkei schweren Zeiten entgegengeht. Zumal völlig unklar ist, wer die Garantien finanzieren soll, die die Regierung Sparern und Unternehmern im Kampf gegen den Währungsverfall gegeben hat. Im schlimmsten Fall droht eine Schuldenfalle – oder die Inflation weitet sich über die schwache Lira in der Zahlungsbilanz zu einer Banken- und Staatsfinanzierungskrise aus. 

Türkei: Neuwahlen sind unwahrscheinlich

Neuwahlen wären ein Ausweg aus der Misere. Der nächste Wahltermin steht planmäßig erst im Jahr 2023 an. Doch es ist unwahrscheinlich, dass Präsident Erdogan die Türken in wirtschaftlich schwierigen Zeiten früher an die Urne ruft. Zu mies die eigenen Umfragewerte, zu groß die Angst vor einem Machtwechsel. In den großen Städten gingen in den letzten Wochen Tausende auf die Straße. Fast scheint es so, als setze der Präsident in dieser Gemengelage auf das Prinzip Hoffnung: dass die Wirtschaft weiter so stark wächst und die Währung sich stabilisiert – zumindest bis zum Wahltermin. 

Ob die Rechnung aufgeht? Womöglich wiederholt sich Geschichte am Ende doch. Als Erdogan im Jahr 2002 an die Macht kam, hatte die Türkei eine schwere Wirtschaftskrise hinter sich. Als Ministerpräsident und Präsident führte er das Land näher an Europa heran, setzte auf marktwirtschaftliche Reformen und modernisierte Staat und Verwaltung. Doch spätestens mit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 war es damit vorbei. Erdogan regierte zunehmend autoritär – und steuerte die Türkei in eine Wirtschaftskrise, die nun seine eigene Herrschaft bedroht.