Russland scheint erstmals in der Geschichte seiner Wirtschaftsbeziehungen mit EU-Staaten seine Energielieferungen zu drosseln – und versetzt damit die Regierungen der betroffenen Staaten in veritable Aufregung: Unmittelbar nach dem Besuch von Mario Draghi, Olaf Scholz und Emmanuel Macron in Kiew meldete der staatliche italienische Energieversorger Eni am Freitag, dass der russische Gazprom-Konzern nur noch 50 Prozent der bestellten 63 Millionen Kubikmeter geliefert habe; am Donnerstag waren es noch 65 Prozent gewesen.
Der italienische Umweltminister Roberto Cingolani sagte laut dem Corriere della Sera, er habe die vergangenen 36 Stunden damit zugebracht, die Gasflüsse zu überwachen. Noch könne man nicht sagen, ob es sich, wie von Gazprom angegeben, um ein technisches Problem oder eine „Vergeltung“ handle. Am Donnerstag hatte der französische Engiekonzern laut Bloomberg gemeldet, dass die Gaszufuhr eingeschränkt worden sei. Auch Deutschland, Österreich und Tschechien haben ähnliche Meldungen abgesetzt. Robert Habeck sagte, noch sei die Versorgungssicherheit nicht gefährdet, die Lage sei jedoch ernst.
Der von Gazprom angeführte Grund für die reduzierten Lieferungen ist die ausbleibende Lieferung eines Kompressors für eine Turbine von Siemens Energy. Dieser kann wegen der Russland-Sanktionen nicht aus Kanada geliefert werden, weil sich Siemens strikt an das westliche Sanktionsregime hält. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck glaubt diese Begründung nicht, sondern vermutet ein politisches Manöver. Habeck ließ verlauten, die Reparatur sei erst im Herbst fällig. Doch mit der Sache vertraute Fachleute sagen, eine derartige Reparatur sei wie eine Autoinspektion routinemäßig fällig. Allerdings kann niemand wirklich sagen, ob wegen des fehlenden Siemens-Teils die Pipeline wirklich angehalten werden musste.
Der russische Botschafter bei der EU, Wladimir Tschischow, brachte am Donnerstag sogar eine völlige Abschaltung der alten Nord-Stream-Pipeline ins Gespräch, sollten die technischen Probleme nicht behoben werden können. Gazprom-Chef Alexej Miller sagte auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg, dass die neue Pipeline Nord Stream 2 stattdessen jederzeit in Betrieb genommen werden könne. Miller sagte laut der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass, dass beide Rohrstränge unter Druck stünden und daher lieferfähig seien. Allerdings habe Gazprom damit begonnen, einen Strang neu zu kalibrieren und Gas in den Nordwesten Russlands zu leiten. Dort werde das Gas gebraucht, während Nord Stream 2 noch die Zertifizierung fehle.
