Für Ukrainer teilt sich das Leben mittlerweile in eine Davor und ein Danach. Davor, das ist das Leben vor der großflächigen Invasion der Ukraine durch Russland. Bis zum 24. Februar arbeitete Uljana Kujditsch als Journalistin, Reiseleiterin und Stadtführerin in Lwiw in der Westukraine.
Für Ende Februar war eine Tour mit Gästen durch Sri Lanka geplant. Doch ihre Gäste kamen nie in Sri Lanka an und Kujditsch fand sich zu Beginn eines Krieges in ihrem Heimatland in Asien wieder. Nach zwei Wochen kehrte sie in die Ukraine zurück. Mittlerweile arbeitet sie als Übersetzerin für eine französische Hilfsorganisation. Mit der NGO besuchte sie diese Woche die ostukrainische Millionenstadt Charkiw, die seit dem 24. Februar massiv von den russischen Streitkräften angegriffen wurde. Für die Berliner Zeitung schildert sie ihre Eindrücke.

Wir sind derzeit in der Stadt Dnipro untergebracht. Sie ist zwar relativ sicher, wird aber auch von Raketen getroffen und es gibt häufiger Luftschutzalarm. Am Montag waren wir auf einer humanitären Mission, um Hilfsgüter nach Charkiw zu bringen. Wir haben größtenteils Lebensmittel und Hygieneartikel in die Stadt transportiert, um zunächst die größte Not ein wenig zu lindern. Insgesamt haben wir eine LKW-Ladung mit acht Tonnen und einen vollen Transporter nach Charkiw gebracht. Eigentlich aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber für viele Bedürftige ist es lebensnotwendig.
Weiter aktive Kämpfe in den Vororten
Die Zufahrt zur Stadt ist wieder möglich, nachdem in den ersten Wochen der Kämpfe in der Region eine Fahrt lebensgefährlich sein konnte. Auch heute ist es noch nicht zu 100 Prozent sicher, aber es ist möglich. Überall in der Stadt gibt es Checkpoints der Territorialverteidigung. In einigen Stadtteilen, wie in Saltiwka, sowie in den Vorstädten wie Derhatschij und Rohan finden jedoch weiter aktive Kämpfe statt und es ist nahezu ständig Geschützlärm zu hören.
Die Stadt selbst sieht gruselig aus. Es gibt überall zerstörte Gebäude. Selbst in der schönen Innenstadt Charkiws ist jedes zweite Gebäude von Raketen- und Artilleriebeschuss beschädigt worden. Was jedoch dabei besonders seltsam anmutet, ist, dass trotz des Krieges die Infrastruktur funktioniert. Städtische Bedienstete räumen den Schutt beiseite und führen auch Reparaturen an den Straßen durch. Das passiert sogar trotz dessen, dass überall in Charkiw weiter Explosionen zu hören sind.

Stille wie in einem Zombiefilm
Was aber besonders beängstigend ist, ist die unheimliche Stille. Charkiw hatte vor dem Krieg offiziell 1,5 Millionen Einwohner, vermutlich aber wesentlich mehr und war sehr lebendig. Mittlerweile sieht man in der Innenstadt nur noch einzelne Autos, die Straßen sind leer. Man muss bei diesem Anblick unweigerlich an Filme über eine Zombie-Apokalypse denken. Dennoch ist die Stadt auf den zweiten Blick gar nicht so leer, wie man denkt. Die meisten Leute verstecken sich jedoch vor dem Beschuss in den Kellern und U-Bahn-Stationen. Die Stadtverwaltung schätzt, dass noch bis zu einer Million Menschen in Charkiw ausharren.
In den meisten Häusern gibt es aber weder Wasser noch Gas nach Strom. Oft sitzen die Menschen schon seit Wochen bei 5 oder 10 Grad in den kalten Schutzräumen, die meistens aber nicht mehr als die Keller der Wohnblöcke sind. Wenn der Beschuss abflaut, gehen viele Bewohner in ihre Wohnungen. Manchmal ist auch kurz Wasser verfügbar, so dass die Menschen duschen und eine richtige Toilette benutzen können.

Leben im Untergrund von Charkiw
Trotz der widrigen Umstände bleiben viele Menschen jedoch in der Stadt. Allerdings ist es meist nicht freiwillig, denn oft haben sie einfach kein Geld, um zu flüchten, wissen nicht, wo sie hin sollen, oder sind einfach zu alt für eine Flucht. Oft haben sie auch nur wenig Informationen von außen erhalten und sind sich nicht bewusst, dass es anderswo in der Ukraine mitunter sicherer ist. Vor allem die alten Leute wollen ihr Zuhause aber auch gar nicht verlassen und reagieren mit Trotz. So hat uns eine 93-Jährige erzählt, dass sie bei einer russischen Besetzung der Stadt die russischen Soldaten einladen und verköstigen würde. Wenn diese dann schlafen, plant sie, einfach das Gas aufzudrehen, bis alle gemeinsam sterben. Was habe ich noch zu verlieren, meinte sie.











