Gesundheit

Virtual Reality für Senioren: Kann moderne Technik Demenzkranken helfen?

Das versucht das Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus herauszufinden. Das Berliner gerontopsychiatrische Zentrum möchte eine Lücke in der Forschung schließen helfen.

Oberärztin Eva Brandl vom Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus testet mit einer Probandin eine VR-Brille.
Oberärztin Eva Brandl vom Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus testet mit einer Probandin eine VR-Brille.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Sie ist abgetaucht in eine andere Welt, nicht erreichbar seit dem Moment, als sie sich diese Brille aufgesetzt hat, die sie aussehen lässt wie eine Taucherin. Nur dass sie nicht hindurchschauen kann, sie allein die Fische sieht und das Korallenriff, vor dem die Tiere auf- und abtanzen, in einer virtuellen Realität, projiziert in diese VR-Brille. „Ach, das ist ja herrlich“, sagt die Frau, weißes Haar, vielleicht Anfang, Mitte 80. Ihren Rollstuhl hat sie auf das Fenster am Ende des Flurs ausgerichtet. Draußen vor dem Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte ziehen Wolken auf. Für die Frau mit Brille schimmert im Meer die Sonne der Karibik.

Eva Brandl beobachtet zufrieden die Szenerie im Flur. Sie ist Oberärztin auf der Station und die Seniorin beim virtuellen Tauchgang Teil eines Forschungsprojekts in diesem gerontopsychiatrischen Zentrum an der Psychiatrischen Uniklinik der Charité hier im St. Hedwig. „Wir wollen schauen, wie sich digitale Technik bei der Behandlung unserer Patienten nutzbringend einsetzen lässt“, sagt Brandl. Zum Beispiel beschäftigt sie die Frage, ob eine VR-Brille bei den über 65-Jährigen hilfreich sein kann.

Schon seit mehr als 25 Jahren erforschen Wissenschaftler, wie sich virtuelle Realität in der Psychotherapie anwenden lässt. Etwa bei der Behandlung von Angststörungen. Positive Effekte sind gut belegt. „Es wurden viele Studien dazu gemacht“, sagt Brandl. Allerdings befanden sich unter den Probanden so gut wie keine Senioren. „Es gibt einige kleinere Studien zu Menschen mit Demenzerkrankungen, aber sehr wenige, die Patienten mit schweren Erkrankungen einschließen.“ Mit dem Projekt wollen Brandl und ihr Team nun der Forschung einen Impuls geben.

Die Ausgangslage ist einigermaßen paradox, das wissenschaftliche Interesse bisher gering, der Bedarf dagegen groß. Vor allem bei Therapien für ältere Patienten mit geistigen Einschränkungen. In Deutschland leiden rund 1,8 Millionen Menschen an einer Demenz, 1,2 Millionen Frauen, 600.000 Männer. Bei den meisten wurde Morbus Alzheimer diagnostiziert. In der immer älter werdenden Gesellschaft wächst die Zahl der Betroffenen, allein 2021 erhielten rund 440.000 die Diagnose Demenz. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft prognostiziert einen Anstieg bis 2050 auf 2,4 bis 2,8 Millionen.

Nimmt eine VR-Brille Demenzpatienten die Unruhe?

Zu den Symptomen von Demenz gehören Unruhe, Anspannung, Angst. „Sehr häufig werden deshalb in Pflegeheimen oder auf Stationen von Kliniken Medikamente verabreicht. Trotzdem kommen die Patienten schlecht zur Ruhe“, sagt Brandl. „Außerdem ist in solchen Fällen ein hoher Personalaufwand erforderlich.“ Angesichts des Fachkräftemangels in der Pflege kann das zu erheblichen Engpässen in einer ohnehin oft angespannten Situation führen. „Wir wollen herausfinden, ob VR zu einer Entaktualisierung beiträgt.“ Ob sich Unruhe, Anspannung und Angst durch die virtuelle Realität lindern lassen. Oder ob die ungewohnten Sinnesreize die Symptome verstärken.

„Das Projekt befindet sich in der Pilotphase“, sagt Sandra Just, die Stationspsychologin. „Wir haben zunächst einige wenige Patienten eingeschlossen.“ In den kommenden Wochen wollen sie jedoch möglichst vielen Senioren die Brille aufsetzen, um erst einmal herauszufinden, „wer überhaupt bereit dafür ist und darauf Lust hat“. An die 15 Probanden sollen dann täglich die VR-Technik nutzen. 34 Betten hat die Station. Daneben verfügt das gerontopsychiatrische Zentrum über eine Tagesklinik, eine Ambulanz und eine Beratungsstelle. Das Reservoir an potenziellen Testpersonen ist groß.

Auf zwei Jahre ist das Projekt angelegt, zwei Brillen haben sie angeschafft, finanziert von der Berliner Sparkassenstiftung Medizin. Sie haben sich außerdem ein Smartboard zugelegt, eine digitale Tafel. Und Tablet-Computer. Die setzen Brandl und Just schon länger auf ihrer Station ein. Sie haben dabei erkannt, dass die Möglichkeiten begrenzt sind. „Wir haben zum Beispiel gelernt, dass sich psychisch kranke Patienten durch bestimmte Chatnachrichten bedroht fühlen“, sagt Just. Sie haben den Umgang mit einem Messengerdienst erprobt und gemerkt, „dass man das in einem geschützten Bereich üben muss“.

Herausgefunden haben sie zudem, dass digitale Technik in der Sterbebegleitung hilfreich sein kann. „Wir erleben immer wieder, dass Patienten in den letzten Stunden ihre Lieblingsmusik hören möchten und dass das einen positiven Effekt auf sie hat“, sagt Oberärztin Brandl. Die Station verfügt inzwischen über einen eigenen Spotify-Account.

Macht digitale Technik Pflegekräfte zufriedener?

Von dem VR-Projekt erhofft sich Brandls Team ähnliche Erkenntnisse, die sich für ihre Arbeit als wertvoll erweisen, aber auch anderen zugutekommen, außerhalb des klinischen Alltags Pflegeheimen oder Angehörigen psychisch kranker Senioren. „Wir haben uns schon mit Firmen ausgetauscht, die digitale Anwendungen entwickeln“, sagt Brandl. Sie und ihr Team haben nicht den Anspruch, irgendwann eine breit angelegte empirische Studie vorzulegen. „Wir haben kein klassisches Forschungssetting, mehr ein Alltagssetting“, sagt Brandl. „Alltagsnahe Daten existieren ja bislang nicht.“

Das wollen sie jetzt also ändern, wollen auch erfahren, wie es ihren Mitarbeitern mit der digitalen Technik geht. „Macht es das Pflegepersonal zufriedener, wenn es gemeinsam mit dem Patienten mit einer VR-Brille arbeitet?“ Das ist eine der Fragen, auf die Brandl eine Antwort sucht. Die Mitarbeiter werden am Anfang und zum Schluss des Projekts interviewt.

Die Frau im Rollstuhl hat ihr Urteil schon gefällt. Ihre Hände bewegen sich in der Luft, als wollten sie in etwas eintauchen. Vielleicht versucht sie, nach einem virtuellen Fischschwarm zu greifen. Vielleicht blickt sie aber auch auf eine Landschaft mit Wiesen, Bäumen und im Hintergrund einem schneebedeckten Berg. Ein lang gezogenes „Aaaaah“ lässt die Frau vernehmen, und es klingt, als wolle sie die Brille nicht mehr hergeben.