Ein hellblaues Jeanskleid für 35,49 Euro. Eine Beuteltasche für 11,99 Euro. Ein Feinripp-Top für 5,99 Euro. Das ist ein Einblick in das Angebot des heute eröffnenden Pop-up-Shops von Shein auf dem Tauentzien, dem chinesischen Onlinehändler, der auf seiner Webseite noch mal niedrigere Preise aufruft.
Dort gibt es Kleider schon ab 6,50 Euro, Taschen ab 3 und Tops ab knapp 4 Euro – noch vor Rabatt- und Sale-Aktionen, wohlgemerkt. Was diese grotesk anmutende Preisgestaltung nicht nur für die Qualität der Ware, sondern auch für die Produktions- und Arbeitsbedingungen dahinter bedeuten dürfte, kann sich wohl jede und jeder selbst vorstellen. Oder etwa nicht?
Shein ist eines der derzeit am schwierigsten zu bewertenden Unternehmen der globalen Modeindustrie. Das wird auch am Donnerstagabend (23. März) vor der Pop-up-Eröffnung deutlich, der einem journalistischen Fachpublikum vorbehalten war. Eine gute Nachricht gleich vorweg: Themen der Nachhaltigkeit und Preisgestaltung wurden bei einer Podiumsdiskussion zumindest nicht ganz ausgeblendet.

Zwar wirkt das Firmencredo des Unternehmens mit Hauptsitz im chinesischen Guangzhou, das die Europa-Chefin Cui He und der Leiter der globalen Kommunikation, Peter Day, im Bühnengespräch mantrisch herunterbeten – man wolle Mode und Schönheit „für jeden zugänglich machen“ – ein bisschen arg euphemistisch. Und doch liefert Day für die Dumping-Preise eine Erklärung, die selbst erfahrene Fachleute zumindest stutzig machen dürfte.
Das höchst technologie- und KI-getriebene Unternehmen kalkuliere seine Produktionsmengen auf eine möglichst realistische und flexible Weise. Anders als in der Industrie üblich, würden hier eben nicht große Mengen einzelner Teile produziert in der Hoffnung, diese auch loszuwerden. Stattdessen lasse Shein von jedem Entwurf erst mal nur kleine Mengen herstellen – Day spricht von je „100 bis 200 Stück“ –, die sodann auf der Webseite angeboten werden.
Niedrigpreise sollen durch Vermeidung von Überproduktion erreicht werden
Schnell soll die Technik dann erkennen, welche Designs gut laufen: Was gefragt ist, wird zügig in China nachproduziert; was auf wenig Gegenliebe stößt, wird verworfen. „Wenn wir ein positives Signal für ein Produkt bekommen“, so drückt es Peter Day aus, dann nutze man ein eigenes „Lieferketten-Management-System, um mit unseren Drittanbietern genügend Exemplare des Kleidungsstücks zu produzieren, die dieser messbaren Nachfrage entsprechen.“ Das Ergebnis sei eine geringere Überproduktion – man könnte auch sagen: weniger Textilmüll –, die bei anderen Anbietern in die letztendlichen Preise mit einkalkuliert werden müsse.
Sollte das so stimmen und konsequent umgesetzt werden, wäre das zumindest mal ein technisches System, das auch anderen Modefirmen gut täte – und zwar solchen aus sämtlichen Preissegmenten. Denn wir erinnern uns: Im Jahr 2018 schockierte ein Geschäftsbericht von Burberry, demzufolge die britische Luxusmarke jährlich überproduzierte Produkte im Gesamtwert von mehreren Millionen Euro schreddert, statt sie zu Rabattpreisen wieder in den Verkauf zu geben, zu recyceln oder zu spenden.

Diese Vorgehensweise, die auch bei anderen Luxuslabels sowie bei Fast-Fashion-Anbietern gängig ist, dient dem Ziel, sich die eigenen Preise nicht selbst kaputt zu machen. Eine bessere Kalkulation nach dem On-Demand-Prinzip von Shein klingt hier zwar nach einer sinnvollen Lösung. Fraglich ist aber, was die im Fall der Fälle zügige Nachproduktion von beliebten Teilen für die „Drittanbieter“ bedeutet, von denen Peter Day spricht. Oder besser: Für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den chinesischen Textilfirmen, mit denen das Unternehmen zusammenarbeitet.
Nach Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters aus dem Jahr 2021 habe Shein die eigenen Lieferketten damals nur unvollständig abgebildet und sei ungenau mit Zertifizierungen umgegangen; die schweizerische NGO Public Eye meldete im selben Jahr, der Fast-Fashion-Anbieter lasse auch in Sweatshops produzieren, in denen Näherinnen und Näher ohne Arbeitsverträge bis zu 75 Stunden in der Woche für einen Stücklohn ohne Mindestverdienst arbeiteten. Ein Bericht aus dem Januar dieses Jahres, für dessen Erstellung Shein drei internationale Prüfungsagenturen beauftragt hatte, darunter der TÜV Rheinland, vermittelt indes andere Zustände.
Unabhängige Prüfdienstleister stellen adäquate Arbeitsbedingungen fest
Die drei unabhängigen Prüfungsdienstleister stellen darin fest, die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Zulieferbetrieben von Shein verdienten unter adäquaten Bedingungen zwischen 40 und 75 Prozent mehr als der Durchschnitt der Privatangestellten in der jeweiligen chinesischen Region. Um das zu garantieren, ließe man die Textilfirmen „einen Verhaltenskodex unterschreiben, der auf unserer Webseite einsehbar ist“, so Day. Warum die verschiedenen Berichte nicht übereinstimmen, oder ob sich die Situation zwischen 2021 und 2023 schlichtweg verbessert hat, lässt sich nur schwer feststellen.
Zurück zu den Preisen: Auch diese lassen sich nur ambivalent betrachten. Denn es stimmt ja – das Bedürfnis nach bezahlbarer Bekleidung, überhaupt nach einem auf sämtlichen Ebenen inklusiven Modeangebot, ist gegeben. „Wir haben ein tolles Sortiment für kurvige Männer und Frauen, denen anderswo nicht dieselbe große Auswahl angeboten wird“, will Cui He, die Europa-Chefin noch herausstellen; außerdem erreiche man das eigene Vorhaben, für möglichst viele Menschen erreichbar zu sein, auch durch den Fakt, dass man via des Onlineshops in rund 150 Länder verkauft. „Und ich brauche wohl nicht zu sagen“, so Cui He, „dass auch unser Preislevel diesen Anspruch spiegelt.“

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Preise von Shein eben nicht nur jenen Kundinnen und Kunden entgegenkommen, die sich wirklich kaum mehr leisten können als gelegentlich einen Fünf-Euro-Pulli. Sie verlocken auch eine breite Masse dazu, eben nicht nur dieses eine günstige Teil in den digitalen Warenkorb zu packen – sondern ihn vollzuladen mit gedankenlosen Spontankäufen. Was nicht gefällt, braucht gar nicht erst zurückgeschickt werden: Fünf Euro verschwendet, sei’s halt drum. Ob es Anstrengungen gibt, zu einem bewussten Kaufverhalten zu animieren, wurde am Donnerstag jedenfalls nicht thematisiert.
Laut eines Greenpeace-Berichts aus dem vergangenen Jahr stellt das Unternehmen, dessen Umsatz 2021 auf knapp 16 Milliarden US-Dollar geschätzt wurde, täglich zwischen 6000 und 9000 neue Artikel online. Selbst von einer Suchtgefahr für Teenager ist in zahlreichen Onlineartikeln die Rede.




