The Wizard of Vintage

Das Unterhemd: Ein Top namens Marcel

Als modisches Basic ist das einstige Unterhemd ein Dauerbrenner. Aber wer hat es eigentlich erfunden und warum hat es einen französischen Vornamen?

Silvester Stallone in schwarzem Marcel: In Rambo III (1988) wären lange Ärmel fehl am Platz. 
Silvester Stallone in schwarzem Marcel: In Rambo III (1988) wären lange Ärmel fehl am Platz. Imago/TriStar Pictures/Everett Collection

Das wirklich Faszinierende in der Mode sind die Geschichten hinter den Kollektionen und Klassikern. Umso mehr, wenn es um ein äußerst angesagtes Kleidungsstück geht, das eigentlich aus einer Notwendigkeit heraus entstand und früher unsichtbar bleiben musste. 

Genau solch eine Karriere hat das Trägerunterhemd hinter sich. In Frankreich wird es „Marcel“ genannt, während es im internationalen Modejargon als Tanktop bekannt ist. Es gehört heute zur Oberbekleidung und kommt auch in dieser Saison wieder als Statement-Piece in fast allen Designerkollektionen vor. Das ärmellose Unterhemd punktet als Kernteil einer zeitlosen, nachhaltigen Garderobe, denn: Dazu lässt sich einfach alles kombinieren. Jetzt, wo es kühler wird, kann es etwa die Basis vieler Layering-Looks sein.

Das Tanktop ist ein modischer Dauerbrenner, den man erfinden müsste – wenn dies um 1875, als die ersten mechanischen und halbautomatischen Strickmaschinen losratterten, nicht schon passiert wäre. Erdacht als Arbeitsklamotte für die Entlader in den Häfen von London und Marseille, musste es leicht, schweißaufsaugend und eng anliegend sein, um sich ja nicht in irgendwelchen Räderwerken zu verfangen. Im Französischen heißt so ein Shirt entsprechend débardeur (Entlader, Hafenarbeiter). Aber wie eingangs erwähnt, wird es auch Marcel genannt. Warum?

Das Unterhemd und der Marcel

Die Antwort: Im Pariser Großmarktviertel Les Halles, wo die Gemüsekistenschlepper Mitte des 19. Jahrhunderts die Ärmel ihrer Pullis kappten, war diese Kreation bald als „Marcel“ bekannt – nach dem Strickwarenfabrikanten Marcel Eisenberg aus Roanne, der die Endkunden-Erfindung alsbald kommerzialisierte. Und wenn wir schon bei Namen sind, dann klären wir doch gleich noch, wo das englische „Tanktop“ herkommt: Von den ärmellosen Badehemden, die man zum Schwimmen im tank – so nannte man früher einen Pool – überzog.

Das ärmellose Shirt ist also ein Kind des industriellen Kapitalismus und seines Strebens nach Rationalisierung. Als solches ist es in den sozioökonomischen Wandel verstrickt, denn je mehr Arbeiter ihre Jobs an die Maschinen verloren, desto mehr wurde das typische Arbeiter-Outfit ein Symbol für prekäre Lebensumstände. Kein Wunder, dass auch Hollywood rohe Mannsbilder vorzugsweise in Tanktops steckte. Allen voran Marlon Brando 1951 in „Endstation Sehnsucht“ in der Rolle des prügelnden und vergewaltigenden Stanley Kowalski. Dann ging’s weiter mit Paul Newman in „Der Clou“ (1973), Robert De Niro in „Wie ein wilder Stier“ (1980), Sylvester Stallone in „Rambo“ (1985) und Bruce Willis in „Stirb langsam“ (1988). Und auch rabiate Ladys zogen sich Tanktops über: Als Sarah Connor in „Terminator II“ machte Linda Hamilton darin 1991 den weiblichen Bizeps erstmals zum Statussymbol; ab 2001 gab Angelina Jolie als Lara Croft dem Tanktop die höheren Pin-up-Weihen. Jenseits des Films bemächtigten sich Rockmusiker des sexy Teils als erstes, das war Ende der 60er-Jahre. Später während der Disco-Ära zogen die Hemden als Sport- oder Basketballtops sogar im New Yorker Studio 54 ein.

Unterhemden von Gaultier, Dior oder Prada

Seitdem gibt es kaum eine Designerkollektion, die das Bestseller-Top nicht aufgreift. Gaultier wandelte es zum „Querelle“-Shirt frei nach Fassbinders Filmdrama, tief ausgeschnitten und eng wie ein Korsett, mit immer schmaler werdenden Trägern. Chanel propagierte es gar als Abendoutfit: Mit Logos versehen und zum Tüllrock kombiniert, so schickte es Karl Lagerfeld 1990 an Claudia Schiffer über den Laufsteg. Maria Grazia Chiuri tat es ihm 27 Jahre später bei Dior nach, und diesen Sommer sah man überall die weißen Jersey-Exemplare von Prada, gut erkennbar am dreieckigen Frontlogo. 

Das unaufwändige Baumwollhemd gehört in fast unveränderter Form zu den Jahrhundertklassikern, die nie an Modernität einbüßen. Ob Feinripp oder Haute Couture, ob unter einem Smoking oder zu Denim: Ein bisschen Rebell sein, das schwingt auch nach so vielen Jahren immer noch mit und lässt Unangepasstheit aufblitzen.