Bookish Fashion

Jetzt wird’s intellektuell: Fashion nach der Zeitenwende

Dass Mode sich von der Kunst inspirieren lässt, ist bekannt. Aber wie sieht es mit Büchern und Texten aus? Unsere Autorin sieht einen Trend zur Vergeistigung.

Die Mode lädt sich im Angesicht von Krisen mit neuer intellektueller Gravitas auf. Virgil Ablohs Videos, mit denen er im Lockdown seine Kollektionen für Louis Vuitton präsentierte, sind voller kultureller Verweise. Das Bild ist aus dem Video „Tourist vs. Purist“, Louis Vuitton AW 2021.
Die Mode lädt sich im Angesicht von Krisen mit neuer intellektueller Gravitas auf. Virgil Ablohs Videos, mit denen er im Lockdown seine Kollektionen für Louis Vuitton präsentierte, sind voller kultureller Verweise. Das Bild ist aus dem Video „Tourist vs. Purist“, Louis Vuitton AW 2021.Louis Vuitton

Es ist noch nicht allzu lange her, da präsentierte Alessandro Michele vor der spektakulären Kulisse des Castel de Monte in Apulien seine von der Geschichte des Universums inspirierte Cruise-Show 2023. Das britische Label Erdem befasste sich in seiner Kollektion mit Motiven aus der englischen Landschaftsmalerei. Bei Etro gab es auf Einladungskarten anstelle von Invitation-Prosa rezitierte Gedichte, und Giorgio Armani kuratierte zur Fashion Week in Mailand im Juni gleich eine ganze Fotoausstellung mit Arbeiten von Mitgliedern der legendären Magnum-Agentur, die bis 6. November in den Armani-Silos zu sehen ist.

Manche Schauen sind beinahe wie intellektuelle Symposien konzipiert oder werden von solchen begleitet. Dass Mode und Kunst ein perfektes Team sind, sich eingestreute Kulturzitate gut machen, ist nicht neu. Neu ist, dass solche Referenzen in digitalisierten Zeiten offenbar gefragt sind wie lange nicht. Die launenhafte Mode hat insbesondere die Insignien der Literatur neu entdeckt, als erdenden Kontrast in einer immer virtueller werdenden Welt. Laufstege werden mit Stehlampen dekoriert, Literaten in der ersten Reihe platziert, zwischen „Musthaves“ der Saison. Die Mode stellt sich damit auch dem über sie verbreiteten Klischee der Oberflächlichkeit entgegen.

Künstler und Autoren als Stilikonen: Oscar Wilde war ein Dandy

Während News durchrauschen, wächst das Bedürfnis nach Entschleunigung und Ritualen, auch in Form von Mode und Accessoires, mit denen man im Kaffeehaus bei analoger Lektüre bella figura machen kann. Die neue Nähe zwischen Mode und Bildungsbürgerlichkeit zeigt, dass die Fashion ebendort angekommen ist. Dass Gräben zwischen Entertainment und Hochkultur vielerorts zugeschüttet wurden, dass beides geht und sich ergänzt. Mode ist nicht nur ein Seismograph für das Kulturgeschehen, sie ist selbst ein Movens. Bemerkenswert viele Schriftsteller haben durch individuellen Look als Stil-Ikone Kulturgeschichte geschrieben.

Oscar Wilde (1854–1900). Sein Look beförderte ganz sicher seinen Ruhm als Dandy.
Oscar Wilde (1854–1900). Sein Look beförderte ganz sicher seinen Ruhm als Dandy.Imago

George Sand und Colette schockten in Männeranzügen, Tom Woolf machte den weißen Maßanzug populär. Oscar Wilde inszenierte sich mit Pelz und Samt als Dandy, die Left-Bank-Autorin Djuna Barnes zeigte sich damenhaft mit Pünktchen-Halstuch plus Hut. Edith Sitwell bevorzugte großen Aufputz, Sylvia Plath das  Adrette. Die Fitzgeralds zelebrierten den Jazz-Age-Glamour, Dorothy Parker das Little Black Dress mit Perlen. Gertrude Stein, die Herbe, trug in späten Jahren Bürstenhaarschnitt und kuttenartige Kleider, hatte aber auch eine Schwäche für Couture und belohnte sich für ihren Bestseller „The Autobiography of Alice B. Toklas“ 1934 in Paris mit einem handgefertigten Mantel von Hermès. Und Joan Didion, die Kühle, modelte im hohen Alter gleich selbst für das Label Celine.

Sie alle hatten einen persönlichen Touch, der sie unverwechselbar machte, hatten „das gewisse Etwas“. Es scheint, als seien Romanautoren und Dichter mit Glamour-Faktor besonders erfolgreich, auch und gerade in Kreisen von Intellektuellen: Eine Prise Glamour sorgte für Gesprächsstoff, hinterließ Eindruck, machte sich gut in den Salons. Glanz kündet von Esprit, Glanz macht interessant – als ob die Kreativität, die aus einem mit Maß inszenierten Auftritt spricht, schon ein Versprechen sei auf die Kreativität des Werks.

Mode und Literatur

Zwischen Mode und Literatur lässt sich ein immer engerer Schulterschluss ausmachen. Die Designhäuser haben erkannt, dass ihre Kundin heute viel häufiger als noch vor zwanzig, dreißig Jahren eine Akademikerin mit entsprechenden Interessen ist, die diese Verbindung goutiert, wenn nicht verlangt. Das Haus Chanel hat mit „Les Rendez-vous littéraires Rue Cambon“ ein literarisch-philosophisches Salon-Programm aufgelegt, wie es wohl auch Coco Chanel gefallen hätte. Kluge Frauen sitzen in schöner Atmosphäre und sprechen über Bücher. Gastgeberin des Literaturclubs de luxe ist Charlotte Casiraghi, die mit ihren Gästen, etwa der Schriftstellerin Leïla Slimani, über Virginia Woolf oder Lou Andreas-Salomé plaudert, zu sehen als Film auf der Chanel-Webseite.

Das literarische Quartett bei Chanel: Fanny Arama, Charlotte Casiraghi, Chantal Thomas und Anamira Vartolomei.
Das literarische Quartett bei Chanel: Fanny Arama, Charlotte Casiraghi, Chantal Thomas und Anamira Vartolomei.Chanel

„Dior hat im vergangenen Frühjahr bei den Pariser Défilés für den Herbst 2022 eine Männerkollektion gezeigt, die von Jack Kerouacs Beat-Generation-Roman „On the road“ inspiriert war. Präsentiert wurde sie auf einem Laufsteg, der wie eine ellenlange Schriftrolle aussah. So avancierte die Modenschau im Einklang mit den Bewegungen der Models zu einer literarischen Choreographie. Die Dior-Looks wirkten wie ein Mix aus Couture und Gegenkultur, die Worte aus dem „Unterwegs“-Manuskript dazu wie ein energischer Impuls in Richtung Zukunft. Die Designs präsentierten sich als nicht nur am Zeitgeist ausgerichtet, sondern eben auch an Dingen, die tiefer zurückgreifen, wie dieser alte Roman. Der Beatnik-Text unterlegte die Kollektion mit etwas Zügellos-Freigeistigem auf der unaufhaltsamen Suche nach Bedeutung.“

Demna Gvasalia verlas bei der kurz nach Ausbruch des Krieges veranstalteten Balenciaga- Runway-Show ein zuvor aufgenommenes Gedicht und gestaltete die Präsentation als ein Plädoyer für Liebe und Frieden. Alessandro Michele ließ zur opulenten Gucci-Show auf dem Castel del Monte einen Text über die Philosophen Walter Benjamin und Hannah Arendt verteilen, die beide in den Dreißigerjahren aus Deutschland geflohen waren. Den Bogen vom deutschen Denker zu seinen fantasievollem Entwürfen spannte der Designer, indem er Benjamin die Fähigkeit attestierte, Gedankenfetzen neu zusammenzusetzen, zu rekonstruieren und zu aktualisieren.

Miuccia Prada und Raf Simons, die Intellektuellen der Mode.
Miuccia Prada und Raf Simons, die Intellektuellen der Mode.Imago

Und geht es darum nicht auch in der Mode? Um das Neukonstruieren von Identitäten? Mit seiner radikal am Zeitgeist orientierten Ausrichtung macht Michele aus Gucci eine der momentan meistdiskutierten und damit meistbeachteten, also wertvollsten Marke des Kering-Konzerns. Die per definitionem hedonistische Mode muss, so scheint es, intellektueller und ernsthafter werden, gewichtig sein, will sie sich in diesen ernsten Zeiten behaupten. Miuccia Prada, studierte Politikwissenschaftlerin, die einst als eine der ersten auf das Band zwischen Fashionpeople und Kulturszene setzte, wusste das schon vor Jahrzehnten.

Erwiesen sich früher eher die Modeschöpfenden als Musen der Künstler, so Coco Chanel für Igor Strawinsky, Elsa Schiaparelli für Salvador Dalí, Yves Saint Laurent für Andy Warhol und Mondrian, sind es heute Dichter und Denker, Maler und Schriftsteller, die den Modemachern Anregungen liefern. Das Modehaus Ports 1961 druckt Kasimir-Malewitsch-Muster in Blau, Rot und Gelb auf Sommerkleider. Comic-hafte Pop-Art stand Pate für die Kollektion von Fendi. Der maskulin angehauchte Stil der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach war vor wenigen Saisons erklärtermaßen Vorbild bei Givenchy. Die rumänische Künstlerin Geta Bratescu inspirierte eine Kollektion des Schweizer Labels Akris. Impressionen von einer Georgia-O’Keeffe-Landschaft finden sich aktuell auf einem Kleid von Gabriela Hearst. Die „Walter & Wassily“, eine mattschwarze runde Sonnenbrille von Neubau Eyewear, wurde nach den Bauhaus-Granden Walter Gropius und Wassily Kandinsky benannt, und wie viele Sneaker-Modelle von Künstlerhand gestaltet wurden, ist kaum noch zu überschauen. Auch die Werbung platziert Kampagnen mitten in die hippe Kunstwelt. Louis Vuitton lässt in einem Kurzfilm die Schauspielerin Léa Seydoux im Ambiente eines Modern Art-Museums eine neue Handtasche ins Bild setzen. Und Ralph Lauren lud in die Neue Nationalgalerie in Berlin, um passgenau zum Gallery Weekend die Eröffnung seines Shops am Kurfürstendamm Anfang Mai zu feiern. Die Liste scheint endlos.

Literatur auf neuen Bühnen

Der amerikanische Designer Virgil Abloh nutzte Bücher und Zeitschriften als Accessoires in seinen Kollektionen und setzte dabei insbesondere Dichter der Black Culture in Szene. Im Jahr 2016 hatte sich Abloh, der Meister der Kooperationen, mit Nike für eine Sneaker-Kollektion der Sonderklasse zusammengetan. Unter dem Titel The Ten feierten sie zehn legendäre Modelle des Sportartikelherstellers, sorgten damit für einen neuen Turnschuh-Hype und anschließende Auktionsrekorde. Inspiriert vom Dadaismus dekonstruierte Abloh die Originalität der ursprünglichen Modelle. Er kritzelte auf die Schuhe in Anführungszeichen gesetzte Textfragmente, schrieb auf den Sohlenrand Widmungen wie „For Serena only“, bediente sich lokaler Idiome und nutzte Slang-Begriffe. Mit seinen der Street Art entlehnten Text-Designs machte der im November 2021 verstorbene  Superstar der Modeszene aus Tretern für Millionen kunstvolle Assemblagen und von der Fashionszene begehrte Readymade-Objekte unserer Zeit.

Dass es Mode und Literatur als Dreamteam derzeit auf viele neue Bühnen drängt, lässt Spannendes erwarten. Und auch, dass Designer wie Armani und Ralph Lauren die Fans längst in eigene Cafés und Bars bitten, dass Prada sich in Mailand vom Filmemacher Wes Anderson in der Fondazione Prada die wunderbare Milano-Fifties-Bar „Luce“ hat einrichten lassen: Dort kann man bei einem Espresso oder Aperol-Campari-Spritz in die Traumwelten eintauchen, die die Designer fürs Publikum inszenieren. Denn auch Eskapismus ist und bleibt ein Versprechen der Mode. Das ist durchaus keine schlechte Nachricht.