New York-Wenn man meint, Madonna schlinge ihre Arme vor allem um athletische Männer und adoptierte Kinder, dann irrt man. Genauso gerne umarmt der Superstar Kassettenradios. Und zwar die großen Geräte mit Griff, die auch Boomboxen genannt werden und die mit dem Aufblühen der HipHop-Kultur spätestens in den 80er-Jahren zum klingenden Statussymbol der New Yorker Ghetto-Kids wurden.
Auch Madonna Louise Ciccone lebte damals in New York. Mit Anfang 20 war sie aus Michigan in den Big Apple gekommen, um berühmt zu werden. Schon mit ihrem Debüt-Album „Madonna“, das sie 1983 veröffentlichte, sollte ihr das gelingen. Förderlich für den schnellen Erfolg war sicher auch ihr Look. MTV war seit 1981 auf Sendung, Musikvideos und Fernsehauftritte mussten auch optisch sitzen. Das war für Madonna ein leichtes Spiel. In ihrem Style fusionierte sie perfekt die hippen Jugendkulturen der 70er und 80er: New-Wave-Frisur, punkige Nietenarmbänder und kaputte Jeans. Dazu kombinierte sie zarte Schuhe, feminin geschnittene Oberteile und roten Lippenstift – Details, die das Outfit mit einem Hauch von Preppy bekömmlich machten. Die Boombox benutzte Madonna schon damals wie eine It-Bag.
Das beweisen auch die inzwischen ikonischen Fotos, die der New Yorker Fotograf Richard Corman von der jungen Sängerin auf dem Dach des Hauses in der Lower Eastside machte, in dem sie damals wohnte. Die Motive zeigen Madonna mit tanzenden Kids und einer zierlichen Boombox. Was inszeniert erscheint, war jedoch Madonnas realer Lifestyle zu jener Zeit.
„Sie sang und tanzte damals ständig mit diesen Kids,“ erzählt uns Corman. „Es war auch ihre Idee, sie und die Boombox für die Fotos mit auf das Dach zu bringen. Sie lebte den Street Style damals, das war echt.“ Die Bilder entstanden 1983, Madonnas Debüt-Album war noch nicht veröffentlicht, und sie ging auf Castings, denn auch Schauspielerin war für sie eine Option. Cormans Mutter war die bekannte Casting-Direktorin und Produzentin Cis Corman, durch sie kam der Fototermin zustande: „Bei meiner Mutter sprach eine jungen Frau für die Rolle in einem Scorsese-Films vor,“ so Corman weiter. „Das war Madonna. Sie bekam die Rolle zwar nicht, aber Cis schlug sie mir für Fotos vor. Sie hatte noch nie zuvor jemanden wie Madonna getroffen!“

Damals ging es in New York noch etwas rauer zu. Auch in Brooklyn lungerten viele Jugendliche auf der Straße herum, die kreativen unter ihnen retteten sich in den HipHop. Es entstand eine Jugendkultur, die durch die Erfindung der Kompaktkassette gestützt wurde und deren produktive Spitze sich zu einer der großen DIY-Strömungen der Popkultur entwickelte.
Aus heutiger Sicht ist die HipHop-Bewegung des New Yorks der 80er ein übercooler Retrotraum. Die Boomboxen von damals, auch Ghettoblaster genannt, tragen diese Geschichte in sich. Technisch sind sie inzwischen unattraktiv, aber die alten Modelle sind bei Sammlern sehr begehrt. Auch die Mode hat die Boombox längst für sich entdeckt. Ein Accessoire, das so einen Underground-Vibe hat, ist für die Designer Gold wert. Denn es ist ja oft der Flirt mit der Straße, mit dem alte Marken wie Louis Vuitton oder Balenciaga im Hier und Jetzt ankommen. Brooklyn ist heute gentrifiziert und Madonna Medienberichten zufolge Milliardärin. Aber immer noch trägt die jetzt 63-Jährige Boomboxen mit sich herum, wenn auch als geräumige Tasche aus Leder von der Marke Midnight Studios. So gesehen neulich in London. Aber warum tut Madonna das?
Eine kleine Geschichte der Boombox
Den Fashion-Hype um die Boombox versteht man vielleicht am besten, wenn man sich das Gerät als Waffe vorstellt. Als Street Culture formte sich HipHop ja vor allem deshalb, weil die afroamerikanischen und hispanoamerikanischen Jugendlichen zu Hause keine gute Zeit hatten. Das Konstruktive, das aus dieser Frustration erwuchs, ist beeindruckend, zumal es auch Jahrzehnte später im Jahr 2022 noch eine kulturelle Rolle spielt: der Rap als verbale Kampfansage, Breakdance, eine Tanzform mit Wettbewerbscharakter – und Graffiti, die visuelle Reviermarkierung mittels deformierter Buchstaben.

Diese kreative Bubble kam nicht ohne die Kompaktkassette aus, die im Verlauf der 70er-Jahre den Markt eroberte. Sie war das Medium der Stunde. Natürlich reagierten die Audiogerätehersteller damals auf die Nachfrage und gingen auf die besonderen Bedingungen der Straße ein. Immer größere, lautere Player, zum Teil mit erstaunlichen Features, wurden gelauncht.
Einige Modelle wurden ganz besonders berühmt und bekamen sogar Spitznamen, wie der „El Diablo“ genannte JVC RC-550 aus den 70er-Jahren. Mit Tragegurt und seitlichen Schutzbügeln war das Mono-Modell ohne Zweifel für draußen gebaut. Später brachte JVC den RC-M90 auf den Markt. Ein Gerät, an dessen Berühmtheit der junge LL Cool J mitwirkte, als er ein Foto der Boombox auf das Cover seines Debütalbum „Radio“ drucken ließ. Auch die Beastie Boys ließen sich mit dem RC-M90 fotografieren. Boomboxen waren im HipHop zum Statussymbol geworden.
Boomboxen, die 12 Kilo wiegen
Eines der größten und bekanntesten Oversize-Radios der frühen 80er-Jahre ist das Conion C-100F. Es hatte Ausmaße von etwa 80 mal 40 Zentimetern und wog etwa zwölf Kilo. In der Sammler-Community wird diese Boombox gerne auch als der heilige Gral der Boomboxen bezeichnet. Je nach Zustand und Legendenstatus kosten alte Geräte heute bis zu mehreren tausend Euro. Zu filmischer Berühmtheit gelangte die J-1 Super Jumbo als Requisit in Spike Lees 1989er-Ghetto-Komödie „Do the Right Thing“. Sie geht aber im Verlauf der Handlung leider zu Bruch. Auch in anderen HipHop-Filmen wie „Beat Street“, „Breakin'“ oder „Wildstyle“ durften Boomboxen nicht fehlen. Die Angaben im Internet variieren jedoch, wenn es um die Modellnamen geht.

Während der 80er-Jahre entwickelten Marken wie Casio, Toshiba, Fisher, Sanyo und Sharp viele unterschiedliche Modelle von Kassettenrecordern, auch viele für den Hausgebrauch. Inzwischen in Stereo mit abnehmbaren Boxen oder eingebauten Synthesizern oder sonstigen Raffinessen. Der VZ-2000 von Sharp verfügte sogar über einen Plattenspieler, in den LPs passten. Ein ausklappbares Fach erlaubte das beidseitige, senkrechte Abspielen. Auch dieses Modell war nicht für die Straße geeignet und eher für gepflegte Mittelschicht-Picknicks gedacht, wie die Werbung damals suggerierte.
Tönende Taschen: Die Boombox als Fashion-Accessoire
Irgendwann verschwand die Boombox von den Straßen, die Viertel veränderten sich, HipHop lief in den Hitparaden, und der Walkman stand auf den Wunschlisten der Teens. Eines Tages war auch die Kompaktkassette obsolet, es kamen Mini-Disc, CD und schließlich Mp3. Kein Bandsalat mehr und kein Leiern: Heute sind Boomboxen digitale Player mit Bluetooth und WLAN und sehen ganz anders aus als damals. Das iPhone ist der Musiklieferant, und draußen hört man Musik über Kopfhörer. Wer seine Musik dennoch laut mit sich herumträgt oder -fährt, wird schief angeschaut.
Das ikonische Design der historischen Boomboxen indes ist auf dem Runway gelandet. Nicht nur ihr Mythos ist also für die Modeschöpfer attraktiv, auch ihre Form legt den Gedanken an ein tragbares Accessoire nahe: Henkel, Ösen, Trageriemen, Griffe, Fächer. Das erinnert doch alles wirklich stark an eine Handtasche.



Während Marken wie Midnight Studios, Judith Leiber oder Louis Vuitton vor allem das Design der Boombox nutzen, entwickelten andere Modehäuser echte Hybride, die sowohl Tasche als auch Audiogerät sind. So präsentierte Dolce & Gabbana 2017 eine Dolce Box Bag mit iPhone-Anschluss im Look eines tragbaren Stereo-Kassettenradios. In Zusammenarbeit mit der Firma Wizpak, die sich auf Taschen und Rucksäcke mit eingebautem Soundsystem spezialisiert hat, kooperierten später MCM und Neil Barrett für limitierte tönende Taschen.


Die wahrscheinlich teuerste Boombox bisher könnte die Speaker Bag von Balenciaga sein. Die Tasche entstand in Kooperation mit Bang & Olufsen und wurde auf der aktuellen Couture-Show in Paris gezeigt. Aus Aluminium gefräst, mehrere Tage perlgestrahlt, eloxiert, von Hand poliert und mit feinstem Leder gefüttert, dürfte eine der auf 20 Exemplare limitierten Bluetooth-Taschen nicht unter 10.000 Euro zu haben sein. Genaue Angaben macht Balenciaga nicht, denn Couture-Preise müssen angefragt werden. Aber wahrscheinlich ist diese teuerste Boombox aller Zeiten sowieso längst ausverkauft.


