Buch

„Sich sehen“: Gespräche über die Bühne der Seele – das Gesicht

Operiert oder tätowiert, zusammengeschlagen oder durch Schönheitsschlaf gepflegt: Luzia Braun und Ursula März haben Menschen nach ihren Gesichtern gefragt.

Drei von 19 für das Buch „Sich sehen“ Befragten: die Psychologin Clemendina Ngina Hügele, der Friseur Johannes Holfeld und die Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras (v. l.).
Drei von 19 für das Buch „Sich sehen“ Befragten: die Psychologin Clemendina Ngina Hügele, der Friseur Johannes Holfeld und die Schauspielerin und Autorin Adriana Altaras (v. l.).Fabian Schellhorn

Sonnige Tage und lange Nächte hinterlassen Spuren, sagt Wolfgang Joop. Er spricht vom Gesicht. Der Modeschöpfer hat schon ungezählten Menschen genau ins Antlitz geschaut, sie auf ihre Tauglichkeit für den Laufsteg geprüft. In dem Buch „Sich sehen“ von Luzia Braun und Ursula März redet er über das eigene Gesicht. Die langjährige Moderatorin des ZDF-Kulturmagazins „Aspekte“ und die Literaturkritikerin und Autorin haben 19 Gespräche über die „Vorderseite des Kopfes“ – wie sie das Gesicht auch mal nennen – geführt.

Es ist die Frage nach schönheitschirurgischen Eingriffen oder Botox, die Joop den Satz über die Spuren der Zeit sagen lässt. Er aber sei „noch nicht beim Änderungsschneider“ gewesen. Eine andere Gesprächspartnerin, Tanja Fischer, ist von Berufs wegen mit der Beschaffenheit des Gesichts beschäftigt. Ihr edles „Haut- und Lasercentrum“ strahlt  Geschmack und Wohlstand aus, sie selbst geht recht locker auf die Interviewerinnen zu.

Die Expertin lasert sich selbst

Die meisten Menschen haben die beiden Autorinnen gemeinsam getroffen. Obwohl das Buch in der Corona-Zeit entstand, waren es fast durchweg direkte Begegnungen. Das Gespräch beginnt immer mit einem Blick in den Spiegel und der Frage, was die Person dabei sieht. Die Schönheitsexpertin Tanja Fischer findet sich „ganz vergnügt“ und ihrem Alter entsprechend, sieht zugleich Makel, „die ich allerdings humorvoll hinnehme“. Sie gibt bald zu, schon lange „ein bisschen“ an sich herumzuexperimentieren. Aber was heißt hier: gibt zu? Das Gespräch ist offen, unbefangen und fachlich sehr informativ. Die Dermatologin hat lange an der Charité gearbeitet, zu Hautkrebs geforscht und sich bald in die Möglichkeiten der Lasertechnik reingefuchst: Flecken, Haare, Äderchen bekommt sie weg. Angesprochen auf das „Waffenarsenal der ästhetischen Dermatologie“ kommt sie zu Zornesfalten, Lachfältchen, Knitterfalten auf der Oberlippe – „das machen wir rauf und runter“.

Vielleicht hat dieser Text schon falsch angefangen, mit den technischen und chemischen Veränderungen am Gesicht. Am Anfang standen Gespräche der beiden Autorinnen miteinander, über Selbst- und Fremdwahrnehmung, darüber, wie man nach dem Aussehen beurteilt wird, vor allem als Frau, aber längst nicht mehr nur als Frau. In der Zeit der Masken fiel Luzia Braun und Ursula März umso stärker auf, wie das Gesicht uns Menschen auch ohne Worte zu kommunizierenden Wesen macht, sie nennen es „die Bühne der Seele“, also nicht wie allgemein üblich den „Spiegel der Seele“. Gelacht, geweint, gewütet und gegrollt werde auf dieser Bühne, hier „geben wir das gesamte Spektrum unserer Emotionen und Stimmungen preis oder versuchen, diese mit mimischer Maskerade zu verleugnen“.

Die Journalistinnen Luzia Braun und Ursula März haben 19 Menschen getroffen, die aus verschiedenen Blickwinkeln über das Gesicht nachdenken, u.A. mit dem Philosophen Peter Sloterdijk. 
Die Journalistinnen Luzia Braun und Ursula März haben 19 Menschen getroffen, die aus verschiedenen Blickwinkeln über das Gesicht nachdenken, u.A. mit dem Philosophen Peter Sloterdijk. Fabian Schellhorn

Wladimir Klitschko haut volle Lotte ins Gesicht

Aus Gesprächen in der Mittagspause entstand die Idee zu dem Buchprojekt. Und man kann den Autorinnen zum Ergebnis nur gratulieren, denn sie rollen mit ihren konzentrierten Fragen zu diesem speziellen Thema, zu dem jeder etwas zu sagen hat, ein gesellschaftliches Panorama aus. Der Boxer Axel Schulz sieht seine Narben aus den vielen Kämpfen kaum noch, die Spuren der mehrfach gebrochenen Nase. Ihm fallen die neuen Zähne zuerst auf. Die Interviewerinnen wollen von einem Kampf hören, bei dem sein Gesicht „richtig ramponiert wurde“. Das war ausgerechnet einer gegen den Bruder des heutigen Kiewer Bürgermeisters: Wladimir Klitschko traf ihn „so volle Lotte mitten rein ins Gesicht, einen so hart schlagenden Mann mit der Führungshand hatte ich noch nie gehabt“.

Das Interview mit der 31-jährigen Gülcan Cetin, die im Alltag OP-Assistentin ist und Medizin studiert, die außerdem erfolgreich Videos für die YouTube-Shows einer Comedy-Gruppe namens „Datteltäter“ aufnimmt, dreht sich schnell um die Rahmung ihres Gesichts: das Kopftuch. Sie sieht sich in der Öffentlichkeit in der Rolle einer Protestierenden. „Ich protestiere gegen das Vorurteil, alle Frauen, die Kopftuch tragen, seien dumm, unterdrückt und zwangsverheiratet.“ Und obwohl man das Gespräch nicht sehen kann, ist es so geführt und verschriftlicht, dass es bildlich wirkt. Gülcan Cetin lässt Luzia Braun die Aussagen von Gesichtsausdrücken raten, schließlich nimmt sie sogar das Kopftuch ab. Aber nicht für den Fotografen.

Fabian Schellhorn, der sonst zum Beispiel für das Gorki-Theater und die Schaubühne arbeitet, hat alle Gesprächspartner in Schwarz-Weiß abgelichtet. Die Bilder stehen immer am Ende der Texte, man kommt also erst nach der Lektüre in die Versuchung, das Gesagte am Sichtbaren zu messen.

Der gefeierte Berliner Krimiautor Johannes Groschupf („Berlin Heat“, „Berlin Prepper“) ist es gewohnt, dass man die Spuren in seinem Gesicht betrachtet. Er ist sich dessen bewusst, wie viel dabei von ihm selbst abhängt: „Wenn man mit sich selber im Klaren oder im Reinen ist, können auch die anderen Leute unbefangener auf einen zukommen.“ Andernfalls wirke er „wie ein rohes Ei, auf das die anderen hilflos reagieren“. Nach einem Hubschrauberabsturz vor fast dreißig Jahren schwebte er lange in Lebensgefahr, wurde mehrmals operiert, musste dann lernen, sein verändertes Aussehen zu akzeptieren. Die Interviewerinnen geben im Vorspann – denn zu jeder Begegnung gibt es einen Einführungstext – zu erkennen, dass sie sich selbst etwas vor der Begegnung gefürchtet hatten, dass ihre Neugier voyeuristisch wirken könnte. Doch Groschupf begegnet den offenen Fragen offen.

'SICH SEHEN - Gespräche über das Gesicht' von Luzia Braun und Ursula März. Verlag: Galiani-Berlin 2022.
'SICH SEHEN - Gespräche über das Gesicht' von Luzia Braun und Ursula März. Verlag: Galiani-Berlin 2022.Galiani-Berlin

Das Jahrhundert des Liftings

Mehrere Bücher hat auch Adriana Altaras geschrieben. In ihrem Erstberuf ist sie Schauspielerin, ihr Gesicht also ein wichtiges Arbeitsmittel. Gut gelaunt streut sie viel Witz und Selbstironie in das Gespräch. Zum Schluss wird sie danach gefragt, wovon hier eingangs die Rede war: Ob sie je überlegt habe, „etwas machen zu lassen“. Oft sogar, jedes Mal nämlich, wenn sie vor der Sendung „Markus Lanz“ neben schönheitsoptimierten Menschen in der Maske war, fiel ihr ein, dass sie das ja eigentlich wollte. Nicht, dass sie sich älter wirkend fände als die anderen. „Diese Liftings sind ja nicht wirklich verjüngend, nur: Ich sehe aus wie aus einem anderen Jahrhundert, das ist mein Problem.“

Als die Interviewerinnen den stark tätowierten Friseur Johannes Holfeld treffen, staunen sie, dass ihnen die monochrom schwarz tätowierten Arme und Beine stärker ins Auge fallen als das mit geometrischen Mustern bestückte Gesicht. Sie scheuen sich nicht, ihn danach zu fragen, wie er sich im Alter mit seinen Tätowierungen fühlen wird. Darüber habe er schon bei der Motivwahl nachgedacht, antwortet er überraschend.

Clemendina Ngina Hügle dagegen hat sich ihre schwarze Haut nicht ausgesucht. Die Psychologin spricht über harte Kindheitsjahre und die ständige Herausforderung, zuerst äußerlich beurteilt zu werden. Deshalb wollte sie ihren Master auf jeden Fall mit Bestnote abschließen, und sie habe eine Weile gebraucht, bis sie ihrem Mann glauben konnte, „dass er mich wirklich liebt, nicht trotz oder wegen der Hautfarbe“. Daran, wie Braun und März hier nach Zuschreibungen und Begriffen fragen, wird klar, dass auch das Thema Gesicht politisch wahrgenommen werden kann. Es steckt eben so vieles darin, der Mensch mit seinen Träumen, Erwartungen und Enttäuschungen, vermeintliche Normen und deren Verweigerung. Das Buch ist ein Angebot zur Selbstbefragung und zum Weiterreden mit anderen.

Luzia Braun und Ursula März: Sich sehen. Gespräche über das Gesicht. Galiani Berlin, 2022. 344 Seiten, 26 Euro.

Gespräch mit den Autorinnen: 28. 9., 20 Uhr im Spiegelsaal von Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, Eintritt: 10/5 Euro.